Braunschweig. Leserforum zeigt: Betriebsräten und Gewerkschaften gehen die Aufgaben nicht aus. Eine Herausforderung ist die Heimarbeit.

Die Interessen von Arbeitnehmern werden in Deutschland von zwei Institutionen vertreten – Gewerkschaften handeln Tarifverträge aus, Betriebsräte bestimmen innerbetrieblich mit. Voraussetzung dafür: Vor 100 Jahren wurde die Weimarer Reichsverfassung beschlossen, in deren Folge 1920 ein Betriebsrätegesetz erlassen wurde. Unter dem Thema „Co-Management oder Gegenmacht – 100 Jahre Betriebsräte“ veranstalteten unsere Zeitung und die IG Metall ein Leserforum im Haus der Wissenschaft, moderiert vom Chefredakteur unserer Zeitung, Armin Maus.

„Ich wünsche mir wieder mehr zukunftsorientierte Unternehmer“, forderte Hans-Jürgen Urban, Sozialwissenschaftler und Vorstandsmitglied der IG Metall, laut Maus „einer der wichtigsten Köpfe der deutschen Gewerkschaften“. Kurzfristiges Renditedenken vieler Großunternehmen, teils nur mit Perspektive möglichst guter Zahlen zum nächsten Quartalsende, sei „ein Drama in der heutigen Wirtschaftsordnung“, betonte Urban.

Daher brauche es heute eher wieder „mehr Mitbestimmung durch die Beschäftigten als weniger“ und somit „mehr Chancen, durch Diskussion auf Augenhöhe in die Gestaltungsprozesse der Unternehmen einzugreifen“, so Urban. Doch die Gewerkschaften haben auch Probleme, neue Mitglieder zu akquirieren, sie erreichen Gruppen wie technische oder kaufmännische Angestellte kaum. Das IG-Metall-Vorstandsmitglied räumte ein: „So erfolgreich, wie wir sein wollen, sind wir nicht.“

Eine Aufgabe, die sicher auf Betriebsräte und Gewerkschaften zukommen werde, sei es, in Zeiten der Digitalisierung eine weitere Arbeits- und Leistungsverdichtung zu verhindern und die Gesundheit der Arbeitnehmer stets im Blick zu haben. Uwe Fritsch, seit 17 Jahren Betriebsratsvorsitzender bei Volkswagen Braunschweig, nannte ein Beispiel: Die Freiheit der mobilen Tätigkeiten, wie Heimarbeit, hätte zwar Vorteile, „aber wir dürfen nicht zusehen, dass hier die Ausbeutung greift“, etwa durch ständige Erreichbarkeit und Kontrolle.

Auf eine andere Art der Arbeitsbelastung wies Antje Pohle, Krankenschwester im Städtischen Klinikum Braunschweig und seit 2018 freigestellte Betriebsrätin, hin. „Es muss eine definierte Höchstgrenze geben, wie viele Patienten eine Pflegekraft versorgen kann“, begründete sie die Notwendigkeit weitergehender gesetzlicher Regelungen im Sozialbereich.

Arbeitssoziologe Herbert Oberbeck von der TU Braunschweig unterstützte die Forderung, ging aber mit den Gewerkschaften ins Gericht: „Über zwei bis drei Jahrzehnte haben sie es versäumt, offensiv eine Diskussion über die Qualität von Dienstleistungen zu führen“, betonte er und nannte die Vergütung in der Logistikbranche. „Es reicht nicht zu sagen, wir sind dagegen, sondern die Gewerkschaften müssen auch erklären, wo sie perspektivisch hinwollen“, meinte Oberbeck. Als Beispiel, wie innovative Vorschläge aus Reihen der Gewerkschaften die Entwicklung von Unternehmen positiv beeinflussen können, nannte der Soziologe die Sicherung von 30.000 Arbeitsplätzen bei VW durch die Vier-Tage-Woche vor genau 25 Jahren.

Fritsch legte den Gewerkschaften nahe, sich weiter zu öffnen. Um Herausforderungen der Zukunft im Sinne der Beschäftigten zu bewältigen, sollten sie sich als Bindeglied zwischen Konzernen und anderen gesellschaftlichen Kräften positionieren und eine „gesellschaftliche Gegenmacht“ entwickeln.