Braunschweig. . Der Ex-VW-Chef wurde als „Technik-Papst“ aufgebaut. Wie konnte ein angeblich so technikverliebter Manager nichts vom Abgas-Betrug gewusst haben?

Warum hat es so lange gedauert, bis die Anklage erhoben wird? Immerhin sind es schon fast vier Jahre jetzt...

Diese Frage zur Anklage des
ehemaligen VW-Vorstandschefs Martin Winterkorn stellte unser
Leser Glen Mapp.

Zum Thema recherchierte
Andreas Schweiger

Als die Staatsanwaltschaft Braunschweig am 15. April gegen den ehemaligen VW-Vorstandschef Martin Winterkorn und vier weitere Führungskräfte Anklage erhoben hat, lag das Bekanntwerden des VW-Abgas-Betrugs am
18. September 2015 zwar noch keine vier Jahre zurück, wie von unserem Leser erwähnt, aber immerhin drei Jahre und sieben Monate. Dass bis zu einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft in den Ermittlungen zum Abgas-Betrug so viel Zeit verstrichen ist, liegt wohl auch am Anspruch der Behörde, die sinngemäß stets betont hat, dass ihr Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehe. Welcher Arbeitsaufwand hinter der Anklage gegen die VW-Manager steht, zeigt, dass die Anklageschrift 692 Seiten umfasst, die Erläuterung des Tatverdachts sogar 75.000 Seiten, die in 300 Aktenbänden geordnet sind.

Werden Winterkorn die ihm vorgeworfenen Vergehen nachgewiesen, drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft. Der einstige Vorstandschef hatte eine Mitschuld an dem Abgas-Betrug allerdings stets von sich gewiesen, zum Beispiel im Abgas-Untersuchungs-Ausschuss des Bundestages. Als er am 23. September 2015, also fünf Tage nach Bekanntwerden des Betrugs, zurücktrat, hat er nur die politische Verantwortung für den Skandal übernommen – also weder die straf- noch die zivilrechtliche.

Wie die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“) nun berichtete, sollen vier Kronzeugen die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen Winterkorn belegen. Der einstige Top-Manager soll schon deutlich vor dem 18. September 2015 von den Abgas-Manipulationen gewusst haben. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Winterkorn bereits seit dem 25. Mai 2014 Kenntnis von den Manipulationen hatte. Am 27. Mai 2015 soll Winterkorn zudem von gleich drei VW-Managern unabhängig voneinander über die Unregelmäßigkeit informiert worden sein, schreibt die „SZ“. Die Zeitung will auch erfahren haben, dass die Strategie der Staatsanwaltschaft maßgeblich von den Aussagen der Kronzeugen abhängt – denn schriftliche Beweise gebe es kaum, die Ermittlungsergebnisse beinhalteten zudem viele Widersprüche.

Das Landgericht muss nun prüfen, ob es die Anklage der Staatsanwaltschaft Braunschweig unter anderem gegen Winterkorn zulässt und ein Hauptverfahren eröffnet. Sollte es zu dem Verfahren kommen, dann wohl erst im nächsten Jahr. Einer Frage, die sich schon von Anfang an viele Beobachter stellen, dürfte auch in einem Verfahren nachgegangen werden: Wie kann es sein, dass ein technik- und detailverliebter Manager wie Winterkorn nichts von den Abgas-Manipulationen erfahren haben will?

Sicherlich fällt Winterkorn heute auf die Füße, dass seine Rolle als „Technik-Papst“ im VW-Konzern vom Unternehmen immer wieder betont und inszeniert wurde. Nach dem Motto: Der sieht alles, der kann alles. So sollte das Image des Autobauers, aber auch Winterkorns über Jahre aufgewertet werden.

Auch wenn es dabei eine Überhöhung gegeben haben mag, hat Winterkorn diese Rolle oft genug zelebriert. Noch immer legendär sind seine Rundgänge auf Messen oder VW-Hauptversammlungen, bei denen seine Finger scheinbar im Vorbeigehen die Spaltmaße der gezeigten Modelle ertasteten. Während Winterkorn VW-intern zu cholerischen Anfällen geneigt haben soll, gab er sich nach außen konzentriert und meist etwas brummelig – das konnte durchaus sympathisch wirken, aber kaum charmant. Gelöst war er selten.

Eine Ausnahme gab es am späten Abend des 4. September 2012. Damals wurde in der Neuen Nationalgalerie in Berlin der seinerzeit neue Golf 7 präsentiert. Nach der Show saß Winterkorn etwas abseits. Als wir ihn ansprachen, dauerte es nicht lange, und die Begeisterung stieg, Winterkorn gewährte unserer Redaktion spontan einen Einblick in seine Technikleidenschaft.

„Kommen Sie“, sagte er damals und stürmte geradezu zu einem neuen Golf. Dabei zog er einen schwarzen Montblanc-Stift aus seinem Jackett und zeigte dessen makellos spiegelnde Oberfläche. Sie sei Vorbild gewesen für einige Bauteile des Golf, etwa die Verkleidung der B-Säule oder das Gehäuse des Infotainment-Systems. Aber wie wird diese Oberfläche produziert? „Wie das geht, das habe ich bei Montblanc in Hamburg gelernt“, sagte er. Dort würden die Oberflächen poliert, nicht lackiert. Das spare Geld.

Dann zeigte er auf ein kleines Dreiecksfenster vor dem Seitenspiegel. Das gab es beim Vorgänger-Golf nicht. „Das wollte ich. Es ermöglicht auf Serpentinen eine bessere Übersicht“, sagte Winterkorn. Seine Detail- und Technikverliebtheit ist an diesen beiden Beispielen gut ablesbar. Und Winterkorn machte in Berlin auch deutlich, mit welchem Anspruch er agierte. „Der Golf 7 ist das, was Volkswagen auszeichnet: Präzision und der Wille zur Perfektion.“

Zwei Jahre später, im Sommer 2014, gab Winterkorn unserer Zeitung ein ausführliches Interview. Damals ging es unter anderem um Baukästen, Strategie und Kosten. Auch in diesem Gespräch zeigte er, wie sehr er sich um Details kümmere, etwa um Kosten zu senken. Damals antwortete Winterkorn auf unsere Frage „Sie analysieren die einzelnen Entwicklungen also auch im Detail?“: „Ja, anders geht es nicht. Die Mannschaft braucht die direkte Rückmeldung vom Vorstand. Das ist typisch Volkswagen, weil wir hier als Manager tief in die Materie eintauchen.“

Wenn es zutrifft, dass Winterkorn tatsächlich so tief in jedes Projekt eingearbeitet war, wie konnte es dann also sein, dass er von den Abgas-Manipulationen nichts wusste? Die Antwort auf diese Frage ist der Schlüssel zur finalen Aufarbeitung des Abgas-Betrugs.