Bodenstedt. Victoria Lies erlebt auf der griechischen Insel Samos, wo sie Asylbewerber in Rechtsfragen berät, einen Polizeieinsatz mit.

. Das Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Samos – es ist einst angelegt worden für 600 Menschen, inzwischen leben dort mehr als 3000 Flüchtlinge. „Die Bedingungen in dem Camp sind grausig“, schildert Victoria Lies aus Bodenstedt, die einen Monat in dem Flüchtlingslager verbracht hat. Die 24-Jährige, die 2013 am Vechelder Gymnasium ihr Abitur abgelegt hat und derzeit in Berlin an der Alexander-von-Humboldt-Universität Jura studiert, hat den Flüchtlingen in dem Camp ehrenamtlich eine Rechtsberatung gegeben. „Wir haben die Menschen auf ihre Anhörung vorbereitet und bei Familienzusammenführung unterstützt“, sagt Victoria Lies über ihre Arbeit. „Die Flüchtlinge bekommen ihre Anhörungstermine teilweise erst nach drei Jahren.“

Hier nun der dritte und letzte Bericht von Victoria Lies über das Flüchtlingscamp aus Samos:

„Ich sitze gerade im Flugzeug zurück nach Deutschland. Es fühlt sich ganz absurd an, mit den deutschen Reisegruppen einfach losfliegen zu können. Unser Pass hat ganz schön viel Macht.

Vergangene Woche fand ein großer Transfer von Samos auf das griechische Festland statt: Besonders schutzbedürftige Menschen – insbesondere Schwangere und unbegleitete Minderjährige – bekommen eine „Open-Card“, haben ihr Asylverfahren dann auf dem Festland von Griechenland und können nicht mehr in die Türkei abgeschoben werden. Auch darunter fallen Folteropfer und Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (also fast alle ...), und mit Krankheiten, die auf der Insel nicht behandelt werden können.

Ein einziger Arzt (eigentlich Biotechniker) auf der Insel darf medizinische Berichte für die Asylbehörde ausstellen, damit gerade eine solche schwere Krankheit nachgewiesen wird: Er ist komplett ausgelastet, die Menschen bekommen Termine in sehr weiter Zukunft. Deshalb ist er vollkommen überfordert, hat schon mehrmals gekündigt, aber darf nicht gehen. Keine gute Situation für beide Seiten…

Die Transfers finden mit einer Fähre nachts statt. Wir waren am Camp, als die Menschen verabschiedet wurden, die aufs Festland dürfen. Eine sehr, sehr bewegende Stimmung! Wir machen insbesondere die Vorbereitungen für die Anhörung. Dafür nehmen wir uns jeweils mindestens drei Stunden Zeit, mit den Menschen über ihre Fluchtgeschichte zu sprechen. Die Anhörungen selbst können bis zu acht Stunden dauern: Diese Länge hängt oft auch mit der Tatsache zusammen, dass wir und auch die Asylbehörde immer Leute brauchen, die sprachmitteln.

Die Geflüchteten haben grundsätzlich ein Recht darauf, in ihrer Muttersprache angehört zu werden (bei nicht so verbreiteten Sprachen bedeutet das aber oft eine lange Wartezeit oder eine Telefonübersetzung, was natürlich nicht optimal ist). Gerade haben wir einen Arabischübersetzer und einen Französischübersetzer im Team. Im Juni kommt dann noch jemand für Farsi. Damit ist schon ein Großteil der Sprachen abgedeckt, manchmal wurden Freunden aus dem Camp mitgebracht, die ganz gut Englisch sprechen. So konnten wir letzte Woche auch auf Somali, Lingala und Nepali sprechen.

Samstag war dann ein sehr, sehr zermürbender Tag. Nach einer sehr kurzen Nacht wurden wir morgens um 7 Uhr von lautem Geschrei auf der Straße zum Camp geweckt. Es gab einen Protest der Geflüchteten im Camp gegen die prekären Bedingungen. Die Polizei fand das nicht so witzig, setzte Tränengas ein und verprügelte mindestens drei Menschen. Wir sind also im Schlafanzug hochgelaufen zum Camp, um den Protest zu beobachten.

Auch wenn wir uns durch eine trennende Mauer von bewaffneten Polizisten nicht auf die Seite der Geflüchteten stellen durften, hatten wir das Gefühl, unsere Präsenz war wichtig, um Schlimmeres zu verhindern. Wir wären Zeugen von Polizeigewalt geworden. Wir bemerkten, dass Polizei in Zivil Fotos von uns machte, und so war es schnell klar, dass wir ferngehalten werden sollten. Wir sollten uns ausweisen (mein Schlafanzug hat aber leider keine Hosentasche für den Perso!), und als dies nur einige konnten, wurden wir direkt ins Polizeiauto gedrängt und auf der Polizeidienststelle in Gewahrsam genommen. Während eine Identifikation nur mehrere Minuten dauern sollte, wurden insgesamt zehn Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen (NGO) fast drei Stunden auf der Polizeistation festgehalten – bis der Protest vorbei war. Ich habe mich selten so machtlos gefühlt.

Nach dem Trubel haben wir Pressestatements geschrieben und versucht, die Situation so weit es geht publik zu machen. Die Situation mit der Polizei und den Geflüchteten ist generell eher schwierig. Wenn jemand eine Anzeige machen will, müssen zuerst 50 Euro gezahlt werden – sonst ist nicht einmal das möglich. Man könnte also annehmen, dass das Camp dadurch eine Art rechtsfreier Raum wird…“