Berlin. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, fordert eine schnellere Reaktion der Behörden. Um welche Inhalte es geht.

„Der größte Raum für Antisemitismus im Netz ist TikTok“. Das sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, gegenüber „t-online“ am Mittwoch in Berlin. TikTok, aktuell bei Jugendlichen das beliebteste Soziale Netzwerk, steht damit zum wiederholten Mal in der Kritik. Zuletzt wurde viel über die große Reichweite der AfD auf der Plattform berichtet. Und seit dem 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel, mehren sich die Stimmen, die in TikTok einen entscheidenden Einflussfaktor für die Verbreitung des Antisemitismus bei Jugendlichen sehen.

„Die TikTok-Intifada“, so lautet der Titel eines Berichts, den die Bildungsstätte Anne Frank Anfang Februar veröffentlicht hat. Darin suchen die Autorinnen, Deborah Schnabel und Eva Berendsen, nach Antworten auf die Zunahme von Hetze gegen Juden und Israelhass unter Jugendlichen. „Es ist ok israelische Kinder zu töten, was meinen Sie, wie viele palästinensische Kinder schon gestorben sind?!“ Eine 14-jährige Schülerin sagt das. Nach Ansicht der Autorinnen eine Folge davon, dass junge Menschen dem Online-Content unbegleitet ausgesetzt seien. Was sind es für Videos, die zu solchen Aussagen führen?

Antisemitismus geht viral: zwei Beispiele

Abir el Saghir ist eine libanesische Foodbloggerin. Sie hat fast 25 Millionen Follower und ihre Videos wurden über 360 Millionen Mal geliket. Ihr Profil ist unterschrieben mit „Free Palestine“. Noch am Tag des Überfalls der Hamas hat sie ein Video hochgeladen, in dem sie dabei zu sehen ist, wie sie zur Feier des Massakers Süßigkeiten an Passanten verteilt. Womöglich ließ sich auch der mittlerweile verbotene Verein Samidoun von ihr inspirieren. Mitglieder seines Netzwerks sorgten mit einer ähnlichen Aktion auf der Sonnenallee für bundesweite Empörung.

Schnabel und Berendsen schildern noch einen zweiten Fall. Dabei geht es um ein Video der marokkanischen TikTokerin Lamia. Darin steht die Influencerin frontal vor der Kamera und schminkt sich. In diesem harmlosen Setting werden vor mehr als drei Millionen Zuschauern antisemitische Botschaften verbreitet: Zunächst schminkt sich die Influencerin die Umrisse der Landkarte von Israel und Palästina auf die rechte Gesichtshälfte. Dann füllt sie dieses Gebiet komplett schwarz aus. In weiß zeichnet sie darauf nun die Umrisse des Felsendoms oder der Al-Aqsa-Moschee – mit deutlichen Ähnlichkeiten zum Emblem der Hamas. Nach und nach schminkt sie um dieses Gebiet herum ihr gesamtes Gesicht in den Farben der Palästinenserflagge. Währenddessen erzählt sie eine stark verkürzte und tendenziöse Version des Nahostkonflikts.

Abou-Chaker vergleicht Netanjahu mit Hitler

Auch Fake News gehen auf TikTok viral. Videos, die in Zweifel zogen, ob das Massaker auf dem Supernova-Musikfestival in der Negev-Wüste, bei dem mehr als 360 Menschen von den Terroristen der Hamas ermordet wurden, überhaupt stattgefunden hat, waren laut den Experten der Bildungsstätte Anne Frank besonders erfolgreich. Gleichzeitig habe es viele Verschwörungserzählungen darüber gegeben, dass der 7. Oktober ein sogenannter Inside-Job gewesen sei, die Massaker an der Zivilbevölkerung also nicht von der Hamas, sondern von der israelischen Regierung durchgeführt worden seien. Ein Vorwurf, den die Autorinnen des Berichts mit Blick auf die Gräueltaten und die Trauer in Israel als „schlicht unmenschlich“ beschreiben.

Nächstes Beispiel: ein Berliner Fall, der bundesweit Schlagzeilen gemacht hat. Im Oktober vergangenen Jahres vergleicht Arafat Abou-Chaker in einem Video, das auf TikTok kursierte, den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu mit Adolf Hitler. Wörtlich sagt er: „Für mich ist Adolf Hitler besser als Netanjahu.“ Die Berliner Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen Volksverhetzung auf.

EU-Kommission reagiert – TikTok droht hohe Geldstrafe

Es ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der unendlichen Masse an Content, den es auf TikTok zu sehen gibt. Er gibt jedoch einen Eindruck davon, mit welchen Inhalten junge Nutzer hier konfrontiert werden können. Und die Folgen sind weitreichend: „Lehrkräfte berichten, wie Schüler*innen plötzlich mit terrorverharmlosenden, israelfeindlichen, antisemitischen und unverrückbaren Positionen zum Nahostkonflikt in die Schule kommen – als hätten sie sich über Nacht radikalisiert“, so Schnabel.

Kurz nach dem 7. Oktober hatte die EU-Kommission TikTok deshalb bereits verwarnt. Die Plattform sei ihrer „besonderen Verantwortung“ gegenüber Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend nachgekommen, so der EU-Digitalkommissar Thierry Breton damals. TikTok entfernte daraufhin über 500.000 Videos, stellte mehr Mitarbeiter ein, die Arabisch und Hebräisch sprechen, und kündigte an, mit Künstlicher Intelligenz mehr gewalttätige Inhalte herauszufiltern. Offenbar reichte das nicht: Anfang vergangener Woche eröffnete die EU-Kommission ein Verfahren gegen TikTok. Es soll geprüft werden, ob die Plattform genug gegen die Verbreitung illegaler Inhalte unternimmt und etwa beim Jugendschutz gegen EU-Regeln verstoßen hat. Dem Unternehmen drohen Geldbußen von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes.

Schuster fordert von den zuständigen Behörden schon jetzt, schneller und schärfer einzugreifen. Es brauche insgesamt größere Anstrengungen. Dafür würden allerdings gegenwärtig die juristischen Möglichkeiten fehlen. Denn TikToks Server stehen im Ausland, der Zugriff sei meist schwierig. „Ohne rechtlichen Rahmen ist nichts zu machen“, so Schuster.