Immer wieder sterben Menschen, weil sie beim Rechtsabbiegen von Lastern übersehen werden. Der Verkehrsgerichtstag diskutiert über neue Technik.

Goslar. Sie sterben, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Oder sie werden schwer verletzt. So wie Julia. Die Achtjährige aus Braunschweig steht im toten Winkel, als der Fahrer des tonnenschweren Lastwagens die Kreuzung verlässt und rechts abbiegt. Der Fahrer sieht sie nicht, schneidet die Kurve, erwischt sie. Julia fällt hin. Der Lkw rollt über ihr Bein. Ein Passant ist zur Stelle, rettet ihr Leben. Doch das Bein ist zerquetscht. Kurz vor dem Weihnachtsfest 2011 ist dieser Unfall passiert. Seitdem wurde das junge Mädchen mehrfach operiert und ist immer wieder auf den Rollstuhl angewiesen. Tausende von Radfahrern und Fußgängern in Deutschland haben seitdem schwere Unfälle mit Lkw oder Bussen erlitten. Und immer noch wird darüber gestritten, wie und zu welchen Kosten diese Gefahr technisch verringert werden kann. Auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar diskutieren heute die führenden Experten über diese Frage: Werden „Abbiegeassistenz- und Notbremssysteme“ für Lkw zur Pflicht? Von schweren Unfällen, die von abbiegenden Lastwagen verursacht werden, muss immer wieder die Rede sein. In Oldenburg stirbt am Dienstag eine 17-jährige Schülerin, in der Woche zuvor wird in Hannover ein Elfjähriger von einem Müllwagen tödlich erfasst. Nach Angaben des ADAC kommen in Deutschland jedes Jahr 900 Menschen bei Unfällen unter Beteiligung von Lastern und Bussen ums Leben, etwa 8500 werden schwer verletzt. Die Sprecherin des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR) in Berlin, Julia Fohmann, sagt unserer Redaktion: „Von den 70 getöteten Radfahrern sterben etwa 30 jedes Jahr, weil sie von einem LKW beim Abbiegen nicht gesehen werden.“

Die Allianz für mehr Verkehrssicherheit an dieser Stelle ist so breit wie bei kaum einem anderen Thema. Die Automobilclubs, der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club, Sicherheitsexperten und Versicherer machen sich dafür stark, die Technik einzuführen. Gemeint ist eine Art Kamera-Sensorik an den Außenspiegeln, die den Fahrer durch Bild und Warntöne auf Gefahren hinweist. Auch Juristen und Vertreter der Industrie sind dafür. „Wenn alle Lkw mit Abbiege-Assistenten ausgerüstet wären, könnte das viele Menschenleben retten“, sagt Siegfried Brockmann von der Unfallforschung der Versicherer. Brockmann wird sich heute in Goslar dafür aussprechen, alle Lkw in Deutschland mit der Technik auszurüsten und sogar gesetzliche Nachrüstungen zu verordnen. Allerdings liegen die Kosten für den Einbau eines Abbiegesassistenten bei rund 1000 Euro. Mindestens genauso wichtig wäre nach Einschätzung von Brockmann auch der Einbau der jüngsten Generation von Notbremssystemen. Neu zugelassene LKW müssen zwar seit Ende 2015 damit ausgestattet sein. „Trotzdem sterben auf der Autobahn immer wieder Menschen, weil abgelenkte oder übermüdete Lkw-Fahrer ungebremst ins Stauende hineinfahren“, sagt er. Der ADAC fordert ebenfalls nachhaltige Verbesserungen. Die Systeme dürften nicht mehr abschaltbar sein, so die Forderung. Aber was sagt die andere Seite? Auch der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung erklärt: „Fahrassistenz-Systeme, insbesondere Notbrems-Assistenten und elektronische Abbiege-Assistenten müssen konsequent eingesetzt und weiterentwickelt werden.“ Wie das aus Sicht des Verbandes in der Praxis aussehen könnte, soll in Goslar besprochen werden. Ergänzend zur Technik in den LKW könnten festinstallierte Anlagen wie die „Bike-Flash-Anlage“ die Sicherheit erhöhen. Seit November läuft dieses Pilotprojekt in Garbsen bei Hannover, das Maßstäbe setzen soll. Über ein grell blinkendes Warnsignal wird an der Kreuzung der abbiegende LKW-Fahrer vor dem seitlich heranrauschenden Radfahrer gewarnt. Wärmesensor-Kameras am Antennenmast der Anlage registrieren den Radler bereits, wenn er noch 40 Meter entfernt ist. So werde der tote Winkel ausgeleuchtet, sind Radfahrverbände überzeugt. 34.000 Euro kostete die Anschaffung des „Bike-Flash“. Für Menschen wie die Mutter des Unfallopfers Julia H. aus Braunschweig ist die ganze Diskussion viel zu zähflüssig. „Man hätte mit dieser Technik den Menschen viel Leid ersparen können“, sagt sie. „Schon lange.“ Den Tag, als der Unfall passierte, wird die Mutter der heute 14-Jährigen nicht vergessen. Immer wenn sie in diesen Tagen von Unfällen mit LKW hört, denkt sie an das, was ihrer Tochter passierte. „Auch ich fahre seitdem ganz anders. Den toten Winkel habe ich immer im Hinterkopf, wenn ich an der Ampel abbiege.“ Neben technischen Neuerungen sollten aber auch die Speditionsunternehmen ihrer Pflicht nachkommen. „Die Menschen, die einen anderen Menschen überfahren, werden ihr ganzes Leben nicht mehr glücklich. Daran sollten auch die Arbeitgeber bei der Auftragsannahme denken, dass Zeitdruck und übermüdete Fahrer tödliche Folgen haben können.“ LKW- und Busfahrer hätten eine besondere Verantwortung im Straßenverkehr. Hier seien regelmäßige Drogen- und Alkoholtest, sowie die Überprüfung der Fahrtauglichkeit unerlässlich.