Braunschweig. Mehr Waffen für die Verteidiger? Eine Grüne, ein General und eine „Putin-Versteherin“ diskutierten. Das Publikum war überraschend.

Was kann man sagen, was sagt man lieber nicht, was muss man sagen zwei Jahre nach Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine? Beim „Talk im Medienhaus“ wurde etwas mehr als zweieinhalb Stunden um Antworten auf die Frage „Krieg ohne Ende?“ gerungen. Es wurden große Unterschiede deutlich bei der Diskussion im rappelvollen Saal. Gleichwohl war es kein wilder Schlagabtausch. Moderator Henning Noske mahnte vorab „Ernsthaftigkeit“ an und wünschte sich, man solle Meinungen austauschen, ohne sie sich an den Kopf zu schmeißen. Und er blieb bei dieser Linie, ging gleich dazwischen, wenn es auf dem Podium schärfer hin und herzugehen begann. Mitunter wirkte die Debatte sogar überreguliert. Doch der Vorteil war: Man riss sich zusammen, man ließ sich – zumeist – ausreden und ging sich trotz der fundamentalen Verschiedenheit der Ansätze wenig an die Wäsche.

Verschiedenheit? Aber ja, es gab zwei weit voneinander entfernte Argumentationslinien. Salopp formuliert: Während das eine Lager nach dem Motto „Kein Fußbreit den Putinisten!“ in vielen Variationen mehr Waffen für die ukrainischen Verteidiger forderte, hält das andere Lager diese Lieferungen für den Weg in den Dritten Weltkrieg und ging auf die russische Aggression überhaupt mit vielen „Ja, aber…“-Wendungen ein. Natürlich warf dieses beinahe gleichberechtigte Nebeneinander der konträren Ansätze (aus meiner Sicht, wie ich an dieser Stelle betonen sollte) zuweilen schmerzhaft das Problem der „falschen Balance“ auf. Doch die Stimmung im Publikum entsprach diesem Nebeneinander durchaus. Eher verständnisvolle Äußerungen über Russland und die Forderungen nach Verhandlungen auf Augenhöhe bekamen ebenso viel Applaus wie die Beiträge, die das Leid und die Tapferkeit der legitim in die EU und in die Nato strebenden Ukrainer herausstellten. Klar, die Reihen waren nicht repräsentativ besetzt. Doch man merkte mal wieder: Eine Art „Russia Today-Fraktion“ ist auch in den deutschen Debatten ein nicht unerheblicher Faktor.

Sechs Teilnehmer, zwei Lager

Auf dem Podium warben vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer für eine Ausweitung der humanitären und militärischen Unterstützung des fortwährend bombardierten Landes. Viola von Cramon, die grüne Europaabgeordnete, tat dies ebenso wie der Brigadegeneral a. D. Klaus Wittmann, der Politikwissenschaftler Rafael Loss von der Denkfabrik „European Council on Foreign Relations“ und Igor Piroschik vom Verein „Freie Ukraine Braunschweig“. Gegen Waffenlieferungen argumentierten die Publizistin Gabriele Krone-Schmalz sowie Christoph Krämer von den „Internationalen ÄrztInnen für die Verhütung des Atomkrieges“.

Kurz und persönlich erläuterten die sechs zunächst ihre Beweggründe. Viola von Cramon sprach über die EU-Affinität der Ukrainer. Christoph Krämer warnte vor einem Schlittern in den Atomkrieg. Gabriele Krone-Schmalz sagte, man müsse die russische Position verstehen, was nicht mit Verständnis-Haben zu verwechseln sei. Rafael Loss forderte die Europäer auf, mehr zu tun, um als Waffenlieferanten die Lücke zu schließen, die sich durch einen Ausfall der USA ergeben könne. Igor Piroschik berichtete über das zum Teil barbarische Vorgehen der russischen Soldaten. Und Klaus Wittmann erzählte, wie gut das Verhältnis zwischen der Nato und Russland in den 90er Jahren noch gewesen sei.

Der Streit über die Vorgeschichte

Damit leitete der Offizier einen längeren Diskussionsabschnitt zur Vorgeschichte des Krieges ein. Da spielte die Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ebenso eine Rolle wie die Sicherheitsgarantien Russlands für die Ukraine 1994 (nach deren Verzicht auf die verbliebenen Atomwaffen), die Nato-Russland-Grundakte 1997 und die unter dem Stichwort „Euromaidan“ abgespeicherten Ereignisse 2013/2014, also kurz vor der Krim-Annexion durch Russland. Wittmann machte deutlich, dass die Osterweiterung der Nato niemals ein aggressiver Akt und schon gar keine „Einkreisung“ gewesen sei, sondern dem legitimen Sicherheitsinteresse der ostmitteleuropäischen Staaten entsprach, die die sowjetische bzw. Warschauer-Pakt-Einverleibung glücklich hinter sich gelassen hatten. „Es gab in Russland keine Angst vor der Nato, sondern vor dem demokratischen Virus“, sagte der Ex-General und verwies auf einen russischen Demütigungskomplex, auf eine Art Phantomschmerz der ehemaligen Supermacht. Verständnis für die russische Sicht einer durch die Nato gestörten „Sicherheitsarchitektur“ äußerte hingegen Gabriele Krone-Schmalz. Natürlich habe die Ukraine das Recht, ins westliche Militärbündnis aufgenommen werden zu wollen. Dies wäre aber ein großes Risiko für die Sicherheit in Europa, sagte die ehemalige ARD-Korrespondentin. Wladimir Putin habe seit den 90ern immer wieder die Hand ausgestreckt, um diese Themen kooperativ zu regeln, sei aber nicht ernst genommen worden.

Auf dem Podium: Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations, Berlin.
Auf dem Podium: Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations, Berlin. © FMN | Bernward Comes

Nicht minder weit klafften die Ansichten zur Westbindung der Ukraine auseinander. Viola von Cramon erinnerte an den demokratischen „Euromaidan“-Aufbruch in der Ukraine, der vor zehn Jahren Viktor Janukowitsch als Präsident von Russlands Gnaden hinfortgespült habe. Sie habe heute noch eine Gänsehaut, wenn sie an die beherzten proeuropäischen Demonstrationen in Kiew denke, sagte die Grüne, die mehr als hundertmal in der Ukraine war. Wohingegen Christoph Krämer die Ansicht äußerte, es habe sich 2014 vielmehr um einen vom Westen lancierten „Regimewechsel“ gehandelt. Auch auf die Kuba-Krise in den 60ern, auf den Vietnam-Krieg und auf die Bomben auf Belgrad Ende der 90er Jahre ging der Mediziner ein, um seine These zu untermauern, der Westen rede vor allem dann von Demokratie, wenn es seinen eigenen Interessen entspreche. „So defensiv ist die Nato nicht, sondern hegemonial“, rief Krämer.

Igor Piroschik spricht für den Verein „Freie Ukraine Braunschweig“.
Igor Piroschik spricht für den Verein „Freie Ukraine Braunschweig“. © FMN | Bernward Comes

Damit handelte er sich viel Widerspruch ein. An eine russische Angst vor der Nato glaubt Igor Piroschik kein bisschen. Die Realität des Krieges sei eine ganz andere. „Die russischen Soldaten holen die Kloschüsseln aus den Häusern.“ Rafael Loss reklamierte das Recht der mittelosteuropäischen Staaten auf Selbständigkeit und fand es merkwürdig, dass ausgerechnet in Krämers Darstellung der ukrainische Verzicht auf Atomwaffen (und dessen bitteres Ergebnis) keine Rolle spiele. Klaus Wittmann meinte, es gebe ohnehin keinen politischen Fehler auf irgendeiner Seite, der einen Überfall wie den jetzigen auf die Ukraine rechtfertigen könne. Und besonders störte sich Wittmann daran, dass im Saal vereinzelt höhnisches Gelächter zu hören war, als die demokratische Entwicklung der Ukraine erwähnt wurde. „Das stößt mich ab.“

Der Streit um ein Kriegsende

Und nun? Wie kann der auch an diesem Abend vielfach in seiner unermesslichen Grässlichkeit geächtete Krieg beendet werden? Christoph Krämer führte aus, alle Seiten müssten Zugeständnisse machen und nach einem Waffenstillstand in Verhandlungen eintreten, etwa im Sinne des Vorschlags, mit dem bereits Peter Brandt, Hajo Funke, Harald Kujat und Horst Teltschik hervorgetreten sind. Schlimm findet Krämer die Militarisierung auch hierzulande und insbesondere die Initiativen von Scharfmachern im Bundestag, wofür der jüngste Ampel-Antrag mit Blick auf die Lieferung weitreichender Waffen ein alarmierendes Beispiel sei. Gabriele Krone-Schmalz sprach generell über die Notwendigkeit, beizeiten auch verzeihen zu können, und konkret über die Verhandlungen in Istanbul gleich im März 2022, die eigentlich aussichtsreich gewesen seien. Leider stünden sowohl Putin als auch Selenskyj unter dem Druck von „Falken“ im eigenen Lager.

Viola von Cramon widersprach energisch. Von russischer Seite seien in Istanbul nur „Marionetten“ aufgetreten, Putin habe grundsätzlich gar kein Interesse an einer Verhandlungslösung und sei nur zu bremsen, wenn sein Eroberungskrieg scheitere, weil der Westen die Ukrainer endlich ausreichend unterstütze. Im Übrigen seien die Ukrainer, sei auch ihr Präsident Selenskyj von Beginn an sehr wohl an einer Beilegung des Konflikts interessiert gewesen. Dann aber habe man zur Kenntnis nehmen müssen, wie die russischen Besatzer in Butscha gewütet, wie sie gefoltert und vergewaltigt hätten. Dies habe ihre Wut und somit ihren verzweifelten Mut angestachelt, sagte die Grüne, die davon ausgeht, dass es überhaupt Russland gewesen sei, das die ukrainische Nation quasi zusammengeschweißt habe. „Es geht um Unterwerfung. Darüber kann man nicht verhandeln.“

Klaus Wittmann, Brigadegeneral a.D., lehrt an der Universität Potsdam.
Klaus Wittmann, Brigadegeneral a.D., lehrt an der Universität Potsdam. © FMN | Bernward Comes

Dass Gabriele Krone-Schmalz die Perspektive eines ukrainischen Sieges über Russland für „naiv“ hält, störte insbesondere Klaus Wittmann. Der Brigadegeneral a.D. sagte, so einen Sieg müsse man sich nicht zwangsläufig vorstellen wie den über Nazi-Deutschland. Das durchaus realistische Ziel sei es, die russischen Soldaten von dort zu vertreiben, „wo sie nichts zu suchen haben“. Ein Kompromiss „zwischen Vernichtungsstreben und Überlebenswillen“ sei hingegen schwer vorstellbar, sagte Wittmann – und bei einem Erfolg Putins könnten sich die Moldawier und die Georgier als nächstes auf eine russische Aggression einstellen.

Gegen Ende wurde die Diskussion grundsätzlich schärfer. Spätestens, als Christoph Krämer sagte, er finde es „furchtbar“, auf diesem Podium „flammende Plädoyers“ für einen ukrainischen Sieg über Russland hören zu müssen, gab es angefasste Reaktionen. Klaus Wittmann fand seinerseits den „Mangel an Empathie und die Blindheit gegenüber Putin“ empörend.

Die Schlussrunde mit Fragen aus dem Publikum ergänzte den langen Abend um einige Aspekte. Eine Frau berichtete, Putin in dem Fernsehinterview mit dem US-Moderator Tucker Carlson eigentlich eher nett gefunden zu haben, wohingegen Wittmann darlegte, besonders die historisierenden Bemerkungen des Diktators wimmelten vor Fehlern und Lügen. Uwe Meier vom „Braunschweig-Spiegel“ beklagte „zwei Jahre Propaganda“, womit er offenbar die eher proukrainische Medienberichterstattung in Deutschland meinte. Und Henning Noske wünschte sich, dass man in einem Jahr bitte, bitte nicht noch eine Diskussion zum Thema „Krieg ohne Ende?“ werde führen müssen. Immerhin an dieser Stelle gab es keinen Widerspruch.

Fakten-Check: Was ist mit diesem Ampel-Antrag?

Ein Beispiel für die vielfach verhakten Positionen beim Talk im Medienhaus ist der Antrag der Ampel-Fraktionen über Waffenlieferungen. Diesen am 22. Februar mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP im Bundestag beschlossenen Antrag erwähnte der Mediziner Christoph Krämer als Beleg für die Scharfmacherei in Deutschland. Hier sei schamlos davon die Rede, dass nicht nur die Ukraine verteidigt, sondern Russland selbst mit unserer Unterstützung anzugreifen sei. Brigadegeneral a.D. Klaus Wittmann widersprach: Es gehe nicht um Angriffe auf Russland selbst, sondern vor allem um Angriffe auf von Russland kontrollierte Gebiete hinter der Front in der Ukraine.

In dem Antragstext selbst – den man als Bundestags-Drucksache über diesen Link finden kann – steht wörtlich das Folgende: „Russland nutzt insbesondere die Krim und die besetzten Gebiete für Raketenangriffe mit kurzer Vorwarnzeit. Auch deshalb gilt es, die Ukraine umfassend zu befähigen, die besetzten Gebiete einschließlich der Krim zu befreien und ihre völkerrechtlich anerkannten Grenzen wiederherzustellen. Dies wird nur möglich sein, wenn Deutschland und seine Partner die vorhandenen Kapazitäten zur Rüstungs- und Munitionsproduktion sowie zur Instandsetzung bereits gelieferter Güter für die Ukraine erheblich vergrößern. Insbesondere muss die Ukraine auch künftig in die Lage versetzt werden, Angriffe auf militärische Ziele wie Munitionsdepots, Versorgungsrouten und Kommandoposten weit hinter den Frontlinien durchzuführen und ihre Soldatinnen und Soldaten vor den vielgestaltigen Attacken des russischen Militärs bestmöglich schützen zu können. (…) Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die in der Sicherheitsvereinbarung vom 16. Februar 2024 bekundete langfristige militärische Unterstützung für die ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungskräfte bereitzustellen, um die territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen in vollem Umfang wiederherzustellen, dies beinhaltet die Lieferung von zusätzlich erforderlichen weitreichenden Waffensystemen und Munition, um die Ukraine einerseits in die Lage zu versetzten, völkerrechtskonforme, gezielte Angriffe auf strategisch relevante Ziele weit im rückwärtigen Bereich des russischen Aggressors zu ermöglichen und andererseits die Landstreitkräfte mit der Lieferung von gepanzerten Kampfsystemen und geschützten Fahrzeugen weiter zu stärken...“

Auffällig an dem Antrag ist, dass die Taurus-Marschflugkörper, deren Lieferung Bundeskanzler Olaf Scholz bislang verweigert, nicht direkt genannt werden, sehr wohl aber „weitreichende Waffensysteme“ allgemein. Mit den selbstlenkenden, von Flugzeugen abgefeuerten Taurus-Raketen lassen sich Ziele in bis zu 500 Kilometern Entfernung treffen, was also etwa auch für die Stadt Moskau gelten könnte.

Bleiben die Fragen nach der Definition „völkerrechtskonformer Angriffe“ (grundsätzlich hat die Ukraine das Recht, den Angreifer auch auf seinem Gebiet zu attackieren) und die nach den bei einer Taurus-Lieferung zu regelnden besonderen Bestimmungen. Kurzum: Simpel auflösen lässt sich der Widerspruch Krämer-Wittmann auch an dieser Stelle nicht.