Bochum. Hohe Erwartungen befrachteten die Eröffnung der Ruhrtriennale in diesem Jahr. Ein neuer Intendant gibt seine Visitenkarte ab: Heiner Goebbels.

Der Komponist und Regisseur hat nicht nur ein höchst selten gespieltes Werk auf den Spielplan gesetzt, John Cages «Europeras 1 & 2», er führt auch noch selbst Regie. Goebbels, der während der Studentenrebellion das «Sogenannte linksradikale Blasorchester» mitgründete, gilt als radikaler Neuerer. An John Cage zu dessen 100. Geburtstag zu erinnern, war da nur konsequent.

«Europeras» ist ein Wortspiel. John Cage (1912-1992), ein Künstler, der verschiedene Kunstarten beherrschte und miteinander verschmolz, liebte Scherze. Man kann «Europeras» als «Eure Opern» verstehen, aber auch als «Europas Opern». Im Programmbuch wird der berühmt-berüchtigte US-amerikanische Komponist so zitiert: «For 200 years the Europeans have sent us their operas. Now I'm returning them all of them.» Europa habe 200 Jahre lang seine Opern Amerika geschickt, jetzt wolle er sie uns alle zurückschicken.

John Cage hat sie schön zugerichtet. Die ganzen Geschichten sind weg, der Dirigent verbannt, das Orchester auf gerade mal 30 Mann geschrumpft. Die eine oder andere Arie wird gesungen - bei der Auswahl ließ Cage sich angeblich vom «I Ging», dem chinesischen «Buch der Wandlungen», leiten. Bildungsbeflissene können nun versuchen, herauszufinden, welche Arie zu welcher Oper gehört, in welchen Zusammenhang, andere können den Sängern zuhören und ein Potpourri hören, das den Bildungswert der europäischen Operngeschichte radikal und heiter infrage stellt.

Diesen heiteren Grundgestus nimmt Goebbels in seine Inszenierung auf: Nichts passt zusammen. Das Orchester besteht aus Solisten, jeder spielt seinen eigenen Part, unabgestimmt mit den Kollegen und den Sängern. Bühnenbilder werden von einem Heer von Assistenten wie willkürlich auf- und abgebaut, jede Handlung, jede Spannung ist verbannt. Einmal geht der Vorhang zu und unterbricht den Auftritt eines Sängers. Ein Scheinwerfer erhellt den Vorhang, aber er beleuchtet keinen Darsteller - der Spot bleibt als Effekt für sich (Bühnenbild, Licht, Video: Klaus Grünberg). Die Einzelkünste, die sich sonst der Musik, der Fabel unterordnen, emanzipieren sich und treten in Wettbewerb, wer die größte Aufmerksamkeit für sich verbuchen kann.

In Goebbels' Inszenierung siegen die Kostüme. Florence von Gerkan hat einem Bass die prachtvolle Robe von Königin Elisabeth I. angepasst, ein anderer Darsteller tritt als Ludwig XIV. im goldstrotzenden Gewand eines griechischen Gottes auf samt federgeschmücktem Kopfputz. Prunk und Protz der Oper werden durch den Kakao gezogen - aber das Publikum lacht kaum. Auch der graziöse Auftritt eines athletischen Tänzers im Tutu, den er sich von einer Kollegin ausgeborgt hat, erzeugt keine Heiterkeit. Das Publikum scheint eher befremdet - die Bühnenscherze zünden zu selten.

Das bleibt auch nach der Pause so. Die zweite Oper ist weit weniger opulent. Hier stehen die Sänger vor der Zeichnung einer Stadt, ihre Kostüme erinnern ans 19. Jahrhundert, ihre Melodien wie die Lichtstimmungen rufen eine tiefe Depression hervor. Die zweite wie die erste «Europera» greifen das konventionelle europäische Opernkonzept mit einer ästhetischen Strategie an, die es schon lange im Schauspiel gibt: die Dekonstruktion.

Allerdings wirkt Goebbels versöhnlicher als Cage. Hätte Goebbels Cages Attacken beherzter umgesetzt, wären sie mutmaßlich wirksamer geworden. So endete der Schlussbeifall relativ rasch. Goebbels' Inszenierung, in vielen Ideen brillant und geistreich, blieb hinter den hohen Erwartungen zurück.

Das Programm der Ruhrtriennale 2012 ist reich, aber nicht ganz ausgewogen: Während das Schauspiel an den Katzentisch verbannt wird, kann der Tanz glänzen. Boris Charmatz dürfte mit seinem «enfant» («Kind») an seinen Erfolg bei der Uraufführung im letzten Jahr beim Festival d'Avignon anknüpfen können. Der Choreograph beleuchtet kritisch das Verhältnis von Eltern und Kindern: Wer heute den Nachwuchs vernachlässigt, braucht sich nicht zu wundern, wenn der, erwachsen geworden, die Alten ins Abseits stellt.

Bis zum Ende am 30. September stehen, dem Geist der Ruhrtriennale entsprechend, überwiegend innovative, avantgardistische, mitunter gattungssprengende Kreationen auf dem Programm. So sind bei der Live-Art-Ausstellung «12 Rooms» im Essener Folkwang-Museum lebende Skulpturen zu sehen. Intendant Heiner Goebbels fordert sein Publikum und setzt auf dessen Neugier. Mit Erfolg: Bereits vor der Premiere von «Europeras 1 & 2» waren alle sechs Aufführungen ausverkauft. (dpa)

Über «Europeras 1 & 2»

Über «12 Rooms»

Programmübersicht Ruhrtriennale