Braunschweig. Partnervermittlungen im Internet machen den Seitensprung heute leicht.

Oft steigt Panik in ihr hoch, mal ist sie tief traurig und kann die Tränen nicht stoppen, im nächsten Moment fühlt sie Wut, Wut auf ihren Ehemann, der sie betrogen hat. Die 43-Jährige war stutzig geworden, weil auf dem Familienkonto mehrfach hohe Beträge abgebucht worden waren, sie hatte ihren Mann zur Rede gestellt. Er gab zu, seit mehr als einem Jahr eine Affäre mit einer Kollegin zu haben; er war Arzt in einem Krankenhaus. Für seine Frau brach eine Welt zusammen.

Als das Ärztepaar in der Psychotherapieambulanz der TU Braunschweig Hilfe sucht, hat es schon Wochen der emotionalen Achterbahnfahrt hinter sich. Die Frau wird die Bilder in ihrem Kopf nicht los, sie stellt sich oft vor, wie die beiden miteinander schlafen. Ihr Mann schämt sich, fühlt sich schuldig gegenüber seiner Frau und den beiden Kindern, ist zunehmend niedergeschlagen. Am Ende muss er sich krankschreiben lassen, weil er mit der Situation nicht mehr zurecht kommt.

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Treue ist sehr wichtig für eine gute Ehe oder Partnerschaft; nach einer repräsentativen Umfrage des Instituts Allenbach aus dem Jahr 2013 gaben 88 Prozent der Befragten an, dass Treusein für sie ein unantastbarer, unverrückbarer Wert ist. Untreue zählt deshalb zu den häufigsten Trennungsgründen. In Deutschland endet durchschnittlich jede dritte Ehe mit einer Scheidung und nicht selten ist ein Seitensprung die Ursache.

Ist eine Affäre wirklich der Anfang vom Ende einer Beziehung? Hat sich der Wert einer Partnerschaft in einer Gesellschaft verändert, in der in den Medien Seitensprung-Portale beworben werden? In der zuweilen vorgegaukelt wird, dass es sich bei einer Beziehung mit mehr als einem Partner tatsächlich um einen neuen, individuellen Lebensstil handelt?

Seit 2005 haben sich Mitarbeiter der Psychotherapieambulanz an der TU Braunschweig intensiv mit den Folgen des Seitensprungs befasst und mehr als 200 Paare therapiert. Der Fall des Ärztepaares ist ein Beispiel, das die Wissenschaftler in einer Veröffentlichung beschreiben. Seit der damalige Leiter der Ambulanz, Christoph Kröger, im Juni dieses Jahres zur Universität nach Hildesheim gewechselt ist, bietet die TU aktuell keine Paartherapien mehr an. Aber die Nachfrage ist ungebrochen, wie Ilka Vasterling, Projektkoordinatorin für den Bereich Paartherapie an der TU, bestätigt.

„Der Seitensprung wird heute leichter gemacht, man kann enthemmter, anonymer auf die Suche gehen“, sagt die Psychotherapeutin. Es gibt mehr Gelegenheiten: Wir sind mobiler, treffen auf mehr fremde Menschen in kürzerer Zeit, überall und selbst im eigenen Wohnzimmer. Neben klassischen Online-Datingportalen und Partnervermittlungen gibt es mobile Dating-Apps, die eine Suche per Smartphone ermöglichen. Schnell und unkompliziert.

Die wohl bekannteste Flirt-App ist „Tinder“. Wer auf der Suche nach seinem „Traumkandidaten“ ist, kann darüber ruckzuck einen passenden Partner finden. Wenn sich zwei Menschen attraktiv finden, ergeben sie ein „Match“, sie dürfen chatten, flirten, sich treffen, sich verlieben. Allein in Deutschland nutzen rund zwei Millionen Menschen den Service und täglich kommen bis zu 8000 neue Nutzer hinzu. Zwar wurde die App ursprünglich für Singles zwischen 18 und 35 Jahren entwickelt. Doch nach Erkenntnissen von Forschern der Fresenius Hochschule in Köln haben 42 Prozent aller Tinder-Nutzer einen festen Partner zuhause.

Laut Studien-Leiterin Wera Aretz kann man Tinder mit einem Produktkatalog vergleichen: Dem Nutzer werden scheinbar grenzenlose Wahlmöglichkeiten angeboten. Dies führe am Ende zu einem Teufelskreis: Er werde immer weiter in Versuchung geführt, regelrecht dazu angespornt, nach einem noch besseren Ergebnis zu suchen. Wird das Fremdgehen quasi zum Volkssport?

Tatsächlich zeigt eine aktuelle Studie, dass Seitensprünge wesentlich seltener vorkommen als bislang angenommen. Auch Kröger und Vasterling waren an der repräsentativen Umfrage beteiligt, die im August im „Deutschen Ärzteblatt“ veröffentlicht wurde. Danach ist rund jeder fünfte Mann (21 Prozent) in einer Partnerschaft schon einmal fremdgegangen. Bei den Frauen betrug der Anteil 15 Prozent. Wobei die Motive bei den Geschlechtern scheinbar verschieden sind: Während Männer häufig die Lust auf neue Erfahrungen als Grund nennen, gehen Frauen meist fremd, weil sie Bestätigung suchen.

Nach Internetbefragungen der TU Braunschweig 2014 war man noch von wesentlich höheren Werten ausgegangen: Danach hatten 49 Prozent der heterosexuellen Männer und 29 Prozent der Frauen von Sexualkontakten außerhalb ihrer Partnerschaft berichtet. Die Umfrage war allerdings auch nicht repräsentativ.

„Mehr als der Trend zum Seitensprung zeichnet sich die Tendenz ab, Beziehungen schneller zu beenden, wenn sie nicht mehr gut laufen“, hat Ilka Vasterling beobachtet. Heute gilt nicht mehr nur als treu, wer sein ganzes Leben exklusiv mit dem oder der einen verbringt; es reicht schon, wenn man einem Partner nach dem anderen die Treue hält. Serielle Monogamie also.

Eine kriselnde Beziehung bleibt der häufigste Grund, warum sich Männer und Frauen nach einer Affäre umsehen, erklärt Vasterling. „Ich lade mir die Tinder-App nicht auf mein Handy, wenn ich zufrieden mit meiner Beziehung bin.“ Da Treue in der Wertehierarchie der Bevölkerung aber nach wie vor einen hohen Stellenwert hat, sind die Folgen eines Seitensprungs für die Paare gravierend. „Es ist eines der schlimmsten Erlebnisse in einer Beziehung, den ein Partner aushalten muss“, sagt Vasterling – „die Untreue wird als zwischenmenschliches Trauma erlebt“. Mit teils schwerwiegenden Folgen: Angst- und Schlafstörungen oder Depressionen sind keine Seltenheit.

In der Therapie müssen die Paare zunächst Verhaltensregeln aufstellen: Schlafen wir noch in einem Bett zusammen/überhaupt noch miteinander? Beziehen wir Freunde, Bekannte, Verwandte in die Krise mit ein? Erst dann wird untersucht, was überhaupt zum Seitensprung geführt hat.

Ilka Vasterling sieht die Verantwortung dabei bei beiden Partnern: „Dem Betrogenen muss klar werden: Ich bin zwar nicht verantwortlich dafür, dass mein Partner fremd geht, aber ich bin mit verantwortlich, dass die Beziehung schlecht läuft.“ Das Ergebnis der Paartherapie an der TU hat gezeigt, dass sich Vertrauen durchaus wieder herstellen lässt, wenn die Paare an sich arbeiten: Zwei Drittel seien tatsächlich zusammengeblieben, sagt Vasterling. „Aber man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass es nie wieder so sein wird, wie zuvor.“