Braunschweig. Cybermobbing ist ein relativ junges Phänomen. Wer einmal Opfer wird, kann sich nur schwer von der Schmach befreien.

Paul und Celina sind ein Paar, doch dann trennt sich der 16-Jährige von seiner Freundin, weil er eine andere kennengelernt hat. Für Celina bricht eine Welt zusammen, sie ist gekränkt, verletzt, eifersüchtig. Abends sitzt sie in ihrem Zimmer, sucht nach einem Ventil, ihrer Wut und Verzweiflung Luft zu machen. Sie nimmt ihr Smartphone, öffnet eine WhatsApp-Gruppe und tippt: „Paul hat mich vergewaltigt.“ Der Satz verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Es kommt zu strafrechtlichen Ermittlungen. Am Ende stellt sich heraus: An dem Vorwurf ist nichts dran, Celina hat sich dafür rächen wollen, dass Paul sie verlassen hat. Doch der Vorwurf ist in der Welt.

*

Statistik Das 8. Gebot

Anna trennt sich von ihrem Freund Leon. Dieser ist so wütend, dass er sich an seinen Rechner setzt und einen Facebook-Post schreibt. „Die ist eine Hure, die steigt mit jedem ins Bett!“, schreibt er. Dazu lädt er ein Foto hoch; er hat es gemacht, als sie noch ein glückliches Paar waren. Es zeigt Anna mit Slip und ohne BH. Einen Tag später kennt ihre Klasse das Foto, einen Tag darauf die Parallelklasse, schließlich die ganze Schule.

*

Zwei Fälle, die sich in ähnlicher Form in Braunschweig ereignet haben; die Namen der Jugendlichen sind geändert, die Ereignisse leicht abgewandelt, damit die Betroffenen nicht identifiziert werden können. Doch es könnte sich so überall abspielen, die Beispiele stehen für ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit geraten ist: Cybermobbing.

„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ – dass Menschen andere bloßstellen, schikanieren, schlechtreden, ist nicht neu. Lästerei und Psychoterror in der Schule, am Arbeitsplatz oder in Sportvereinen hat es immer gegeben. „Aber mit dem Internet hat das Thema Mobbing eine ganz andere Dimension bekommen“, sagt Holger Barkhau von der „Jugendberatung bib“ in Braunschweig. „Es ist so leicht geworden, Falschmeldungen oder Behauptungen zu verbreiten – häufig geschieht das, ohne groß über die Folgen nachzudenken. Doch was einmal im Netz ist, lässt sich nicht wieder zurückholen. Die Folgen sind oft fatal.“

Tatsächlich sagt laut einer Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest jeder fünfte Zwölf- bis 19-Jährige, dass jemand schon mal falsche oder beleidigende Sachen über ihn per Handy oder das Internet verbreitet hat. Noch mehr kennen jemanden, der schon einmal im Netz fertig gemacht wurde. Das deckt sich auch mit den Erfahrungen, die Barkhau gemacht hat. Immer wieder kommen Schulklassen in die Beratungsstelle am Domplatz, um über Cybermobbing zu sprechen. „Mittlerweile hat das Thema sogar schon die Grundschulen erreicht.“

Besonders betroffen sind Jugendliche in der Pubertät – in einer Phase also, in der es darum geht, sich abzugrenzen, in der Heranwachsende besonders verunsichert sind, auf der Suche nach einer eigenen Identität. In der Beziehungen zu Eltern und Gleichaltrigen neu geordnet werden und Sexualität ein wichtiges Thema ist. Jeder kann Opfer von Cybermobbing werden. „Häufiger betroffen ist aber, wer nach Ansicht der Mobber nicht der ,Norm‘ entspricht: zu dick oder zu dünn ist, eine Behinderung hat, eine andere Hautfarbe oder komische Klamotten trägt“, sagt Barkhau. Den Tätern gehe es häufig darum, Macht über andere auszuüben, Anerkennung zu finden oder auch von eigenen Misserfolgen abzulenken. Im Netz finden sie ein breites Publikum.

„Das Internet senkt die Hemmschwelle für Mobbing, weil es anonym ist, man muss seinem Opfer nicht in die Augen schauen“, sagt auch Ines Fricke von der Polizei in Braunschweig. Viele Kinder und Jugendliche trauten sich in der virtuellen Welt eher, andere zu beleidigen oder bloßzustellen – wobei die Übergänge von „Spaß“ zu „Psycho-Terror“ fließend sein können. Mit ihrem Kollegen Jens Weidemann ist die Polizeihauptkommissarin deshalb regelmäßig in Schulen unterwegs, um Schüler über die Folgen aufzuklären. „Vielen ist zwar bewusst, dass es nicht in Ordnung ist, wenn im Netz gegen andere gehetzt wird. Aber dass man sich auch strafbar machen kann, ist weniger bekannt.“

In Deutschland gibt es zwar kein spezielles „Mobbing-Gesetz“ oder gar „Cybermobbing-Gesetz“, aber es ist möglich gegen einzelne Straftatbestände vorzugehen: Beleidigung, Bedrohung, Nachstellung, üble Nachrede und Verleumdung oder Nötigung. Auch wer eine andere Person in einer intimen Umgebung, in der Dusche, Toilette oder Umkleide heimlich fotografiert oder filmt, macht sich strafbar.

„Cybermobbing endet nicht mit der Schule oder der Arbeit“, sagt Ines Fricke. Wer im Internet mobbt, kann das rund um die Uhr tun und seine Opfer damit bis nach Hause verfolgen. Die eigenen vier Wände sind kein Rückzugsraum mehr, bieten keinen Schutz vor Attacken. Hinzu kommt, dass Inhalte, die man längst vergessen hat, immer wieder an die Öffentlichkeit gelangen können und es Opfern erschweren, darüber hinwegzukommen. „Es hört nie auf.“

Die Folgen sind meist gravierend: Nach einer repräsentativen Umfrage der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2011 fühlt sich jeder fünfte Jugendliche nach Schikanen im Netz verzweifelt oder hilflos. 18 Prozent gaben an, Schlafstörungen zu haben, sechs Prozent Kopf- und Bauchschmerzen. Opfer können auch depressiv oder aggressiv werden. Im schlimmsten Fall ziehen sie sich komplett aus dem sozialen Leben zurück, sind sie so verzweifelt, dass sie sich selbst töten.

So erlangte vor fünf Jahren der Fall der 15-jährigen Amanda Todd aus Kanada traurige Berühmtheit: Amanda geht in die siebte Klasse, trifft sich mit anderen jungen Menschen im Netz auf einer Videochat-Plattform. Dort singt und tanzt sie vor ihrer Webcam, einer der Nutzer fordert sie auf, ihre Brüste zu zeigen. Amanda zieht ihr T-Shirt hoch. Es ist ein kurzer Moment, aber die Auswirkungen sind fatal: Sie bekommt eine Nachricht von einem Unbekannten, der sie mit der Aufnahme erpresst. Er verbreitet das Bild über Facebook, schickt es auch an ihre Klassenkameraden. Sie wird zum Gespött der ganzen Schule.

Verzweifelt nimmt Amanda ein Youtube-Video auf, in dem sie beschriebene Karteikarten in die Kamera hält. „Ich kann das Foto nie zurückholen. Es wird immer irgendwo da draußen sein“, schreibt sie. „Ich habe jede Nacht geweint und alle Freunde verloren.“ Mehrfach wechselt sie die Schule, doch das Mobbing hört nicht auf. Amanda wird depressiv, bekommt Panikattacken. Schließlich nimmt sie sich das Leben.

Holger Barkhau von der „Jugendberatung bib“ weiß, wie schwer es den meisten Opfern fällt, sich anderen anzuvertrauen, besonders den Eltern. „Sie fühlen sich schuldig, weil sie möglicherweise Nacktbilder von sich ins Netz gestellt haben und sie schämen sich dafür.“ Im Internet gibt es inzwischen Online-Beratungsstellen, an die sich Opfer wenden und die auch Angebote vor Ort vermitteln können. Dort sollen sie vor allem die Möglichkeit bekommen, zu reden, sich mit ihren Schamgefühlen zu beschäftigen. „Wenn ihnen bewusst wird, dass nicht sie, sondern andere schuld sind, rückt ihr verrutschtes Weltbild wieder zurecht. Die Bereitschaft steigt, sich Hilfe zu holen.“

Laut Barkhau spielt neben der Beratung auch die Prävention eine zunehmend wichtige Rolle. Immer wieder rät er Jugendlichen, sensibel mit eigenen Fotos, Videos und Daten umzugehen. Wer trotzdem Opfer sogenannter Hass-Kommentare wird, sollte möglichst gar nicht darauf reagieren, den Verfasser aussperren aus den eigenen Kontakten – und, wenn die Attacken nicht aufhören, sich neue Accounts in den sozialen Netzwerken anlegen oder die Handy-Nummer wechseln. Auch kann man Hass-Kommentare etwa bei Facebook löschen lassen. Zudem sollten Opfer Kontakt zur Polizei aufnehmen und Strafanzeige stellen.

Doch nicht nur die Opfer sind oft hilflos. Ines Fricke und Jens Weidemann von der Polizei werden oft gefragt: Was können wir tun, wenn einer gemobbt wird?

„Eine ganze Menge“, antworten sie dann: Man kann den Mobber blockieren; Posts nicht weiterleiten oder löschen oder zum Opfer gehen und sagen: Wir helfen Dir. Häufig sei es ja gerade der Gruppendruck, der viele zum Schweigen bringt, die Angst, selbst betroffen zu sein, gemobbt zu werden, wenn man sich mit dem Opfer solidarisiert. Am Ende gelte es zu zeigen, dass man die schweigende Mehrheit aus ihrer Stummheit reißen kann. „Es geht um Zivilcourage – auch im Netz.“

Wer Opfer eines Cybermobbing-Angriffs wird, kann sich unter anderem an die Erziehungs- und Jugendberatungsstellen der Städte und Landkreise wenden.

Hilfe gibt es auch online unter: www.bke-beratung.de