Werte. Immer mehr Kinder wachsen nur bei der Mutter oder ihrem Vater auf – oder werden von den Jugendämtern in Obhut genommen. Zwei Schlaglichter.

Jana W. ist es leid, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen. Sie ist Vollzeitmutter, rund um die Uhr für ihre Töchter Josefina (2) und Lisa-Marie (12) da. Sie macht ihnen morgens Frühstück, begleitet sie durch den Tag, kocht, putzt, räumt auf, trocknet Tränen, geht mit ihnen auf den Spielplatz und abends liest sie ihnen vor, immer. Es ist keiner da, der ihr etwas abnehmen könnte, kein Vater, keine Oma, kein Opa. „Immer wieder werde ich gefragt, warum ich denn nicht arbeiten gehe“, sagt sie. Als sei ihre Arbeit nichts wert.

Die Braunschweigerin sitzt in den Räumen des „Verbands alleinerziehender Mütter und Väter“, eine zierliche Frau mit blonden Haaren; auf ihrem Schoß löffelt Töchterchen Josefina ein Obstglas leer. Sie diskutiert mit anderen Müttern über mangelnde Anerkennung, die oft unmögliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf und darüber, wie schnell der Zusammenhalt in den Familien bröckelt. „Jedes Kind wünscht sich eine heile Welt, aber die Realität sieht oft anders aus.“

Jana W. war Filialleiterin im Einzelhandel, ein gut bezahlter Job. Doch 2010 geht ihre Beziehung in die Brüche, sie muss ihren Beruf aufgeben, damit sie sich um ihr Kind kümmern kann. „Arbeitszeiten bis spät abends, wie im Einzelhandel üblich, sind nicht vereinbar mit den Öffnungszeiten von Kitas“, sagt sie. Sie möchte ihre Kinder auch gar nicht abgeben; sie möchte voll für sie da sein, wenn sie schon ihren Vater nur selten sehen. „Verantwortung wird immer weiter verlagert, immer mehr an professionelle Betreuer abgegeben.“ Mit welchen Folgen für die Gesellschaft?

„Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren“ – hinter dem vierten Gebot steckt eigentlich eine positive Norm, die Sorge um den Zusammenhalt der Familien. Ursprünglich zielte es nicht nur auf das Verhalten von Kindern, sondern auch der Erwachsenen gegenüber ihren alten Eltern. In einer Zeit ohne Renten- und Sozialversicherung sollte ihr Wohl sichergestellt werden. Es geht nicht um Gehorsam, sondern um eine Haltung der Wertschätzung, der wechselseitigen Anerkennung. Doch was ist, wenn es den Zusammenhalt in der Familie so nicht mehr gibt?

Unterstützung durch ihre Eltern oder Schwiegereltern könne sie nicht erwarten, sagt Jana W. – sie wohnen zu weit weg beziehungsweise zeigten wenig Interesse an ihren Enkeln. „Die Werte haben sich auch bei der älteren Generation gewandelt“, ist sie überzeugt. „Sie ist nicht mehr unbedingt dazu bereit, für die Enkel da zu sein, sondern auf die eigenen Interessen fixiert.“ Dass sie ihre Eltern im Alter pflegt – auch das wäre in ihrer Situation als Alleinerziehende nicht möglich.

Nach einer Untersuchung der Krankenkasse DAK aus dem Jahr 2015 werden rund 70 Prozent der Pflegebedürftigen heute zu Hause versorgt. Bei 47 Prozent übernehmen dies die Angehörigen, also meist Kinder oder Partner. „Doch der Anteil wird künftig sinken, denn zur demografischen kommen gesellschaftliche Entwicklungen, die dies begünstigen“, heißt es in dem Report. „Es gibt eine Bewegung weg vom traditionellen Familienbild: Angehörige leben weit voneinander entfernt, und in vielen Partnerschaften ist es selbstverständlich, dass beide Partner arbeiten.“ Außerdem steigen die Scheidungsraten und es gibt daher immer mehr Einpersonenhaushalte – wie der von Jana W.

Tatsächlich ist die Zahl der Alleinerziehenden in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Inzwischen zieht in jeder fünften Familie nur ein Elternteil den Nachwuchs groß.

Auch die Zahl der Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben, steigt: Im Jahr 2016 nahmen Jugendämter in Deutschland 84 200 Kinder und Jugendliche in Obhut. Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl seit 2013 damit fast verdoppelt. Zu einem wesentlichen Teil ist der Anstieg darauf zurückzuführen, dass zuletzt viele Minderjährige aus dem Ausland unbegleitet nach Deutschland geflohen sind. Aber nicht nur.

Wenn das Bild der heilen Familie bröckelt, wenn immer mehr Kinder in zerrütteten Familien aufwachsen, bei einem Elternteil, wenn Eltern nicht mehr in der Lage sind, für ihre Kinder zu sorgen – wie steht es dann noch um den Wert des Zusammenhaltes?

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Das Wort Mama kann vieles bedeuten. Es gibt Mama Erde, Mama Afrika, die Mama der Nation – und Andrea Kleber ist Mama Regenbogen. Julius (Name geändert) schiebt seinen Kopf durch die Wohnzimmer-Tür. „Mama, ich gehe jetzt Tischtennisspielen“, sagt er zu der Leiterin des Kinderheims „Haus Regenbogen“.

„Ist gut, aber bitte platze das nächste Mal nicht einfach so herein – ich führe ein Gespräch“, sagt Andrea Kleber ruhig. „Entschuldigung“, ruft Julius.

Sieben Kinder und Jugendliche leben in dem großen Haus in Braunschweig, das mit dem Begriff „Kinderheim“ – wie man es sich früher vorgestellt hat – nur unzureichend beschrieben werden kann. Denn eigentlich leben sie bei den Klebers in einer großen Familie – mit der Besonderheit, dass es ein Zuhause auf Zeit ist.

Die Mädchen und Jungen werden intensiv betreut und gefördert, sie brauchen Hilfe im Alltag, weil sie möglicherweise nicht wissen, wie sie Verantwortung für sich und andere übernehmen können. Sie müssen bestimmte Werte lernen und Absprachen akzeptieren. Zum Beispiel die Absprache, dass man nicht einfach so in ein Gespräch hereinplatzen darf. Julius hat das akzeptiert und schließt artig die Tür.

Wer durch das Jugendamt in Obhut genommen wird, kennt kein „normales“ Familienleben. Die Eltern waren etwa völlig überfordert, drogen- oder alkoholabhängig, sie waren gewalttätig oder schwer krank; haben nur am Handy oder Computer gehangen und keine Zeit für ihre Kinder gehabt – oder aber gegen eigene Krisen gekämpft und ihre Kinder aus dem Blick verloren. „Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Geborgenheit aber bleibt“, sagt Andrea Kleber. Die Heimleiterin akzeptiert es deshalb, wenn einige ihrer Schützlinge sie „Mama“ nennen wollen.

Es gibt keinen Ersatz für die eigenen Eltern – das ist auch nicht der Anspruch der Klebers und der Mitarbeiter, die im „Haus Regenbogen“ rund um die Uhr für die Kinder da sind. Vielmehr steckt hinter dem Modell eine besondere Form der Jugendhilfe, die einen familiären Rahmen bieten soll – ähnlich wie in Pflegefamilien. Die Kinder haben die Freiheit selbst zu entscheiden, wie viel Bindung sie eingehen wollen. Insofern steht Andrea Kleber auch nicht in Konkurrenz zu der leiblichen Mutter oder zum leiblichen Vater – im Gegenteil: Sie arbeitet eng mit ihnen zusammen. Ziel ist es, dass die Kinder und Jugendlichen irgendwann wieder zu ihren eigenen Familien zurückkehren. Bis dahin gilt es, ihnen im Heim ein Gerüst mitzugeben, das ihnen Orientierung im Alltag gibt, Werte zu vermitteln, die häufig im Gegensatz zu dem stehen, was sie bislang erlebt haben – eine große Herausforderung.

„Die Verwahrlosung hat zugenommen“, hat Andrea Kleber beobachtet. Vor einigen Jahren noch hatten sie zum Beispiel selten Kinder aufgenommen, die jünger als fünf Jahre alt waren. Heute kommen schon unter Zweijährige ins „Haus Regenbogen“, oft mit schweren psychischen Störungen. „Einige zeigen Anzeichen von Hospitalismus: Sie schaukeln ihre Körper unablässig im Bett hin und her oder schlagen mit den Köpfen gegen die Wand“, sagt die Heimleiterin. Drei ihrer Schützlinge bräuchten eine Einzelbetreuung in der Schule.

Konflikte zu lösen, haben viele nicht gelernt. Wenn ich keine Rechte habe, besorge ich sie mir – das sei oft eine gängige Vorstellung. Tolerant zu sein, die Meinung und Ideen anderer zu akzeptieren, die Wahrheit zu sagen und nicht abfällig über andere zu sprechen – das sind Werte, die die Klebers den Kindern und Jugendlichen näherzubringen versuchen. Doch manchmal geht es auch um scheinbar einfache Dinge: um eine vernünftige Tischkultur zum Beispiel oder die Tatsache, dass man seinen Müll nicht einfach auf die Straße werfen darf.

Andrea Kleber steht nicht mit erhobenem Zeigefinger da. Für wen es „normal“ gewesen ist, den ganzen Nachmittag vor dem Fernseher zu sitzen und Tiefkühlpizza zu essen, der bringt eine andere Sichtweise mit als derjenige, der ein soziales Leben führt und sich regelmäßig mit den Eltern zu festen Mahlzeiten trifft. Bei vielen solcher Themen entdeckt man Wertekollisionen, sagt sie. Also setzt sie sich mit den Kindern zusammen und versucht eine Lösung zu erarbeiten, mit der beide Seiten zufrieden sind und leben können. „Wo es gute Absprachen gibt, braucht man keine Regeln.“

Stolz sind die Klebers, wenn es ihnen gelingt, Brücken zu bauen. Wenn die Kinder die Schule schaffen, nicht straffällig werden. Wenn sie Wege finden, sich vor Enttäuschungen zu schützen und wieder Kontakt zu ihren Eltern aufzunehmen.

„Selbst wenn schreckliche Sachen passiert sind – die Bindung zur eigenen Mutter und zum Vater ist so stark, dass sie nicht reißt“, weiß Andrea Kleber aus Erfahrung. Bestenfalls gründen ihre Schützlinge auf Zeit irgendwann eine eigene Familie – mit Kindern, die das Jugendamt nicht in Obhut nehmen muss. Das wäre wohl der größte Erfolg.