Kästorf. Künstler Gunter Demnig kommt erneut nach Gifhorn, um Stolpersteine zu verlegen. Erinnert werden soll an zehn Männer. Das sind die Gründe dafür.

Sie kamen in den 1930er Jahren freiwillig nach Kästorf. Zehn Männer ohne festen Wohnsitz, ohne feste Arbeit, arm. Zehn Männer, die in der Arbeiterkolonie Kästorf lebten. Zehn Männer, die dort Schutz, Hilfe und Geborgenheit suchten - und die in den folgenden Jahren allesamt Opfer des Nationalsozialismus wurden. Damit ihr Schicksal nicht in Vergessenheit gerät, sollen künftig Stolpersteine an sie erinnern. Am Donnerstag, 12. Oktober, kommt der Künstler Gunter Demnig zum dritten Mal nach Gifhorn beziehungsweise Kästorf, um die Stolpersteine am ältesten noch erhaltenen Gebäude der Dachstiftung Diakonie zu setzen, dem Uhrenhaus. Die Verlegung der Stolperstein ist öffentlich, wer dabei sein möchte, ist willkommen.

Historiker der Diakonie Kästorf widerlegt Darstellungen aus den 80er Jahren

Steffen Meyer, Historiker der Dachstiftung Diakonie in Kästorf, und Heike Klaus-Nelles, Gifhorns Satdtarchivarin, stellten am Donnerstag die Schicksale der zehn Männer vor. Acht von ihnen wurden Opfer eines der ersten von den Nationalsozialisten erlassenen Gesetzes: Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Sie wurden „unter tatkräftiger Unterstützung“ des damaligen Anstaltsvorstehers Martin Müller gegen ihren Willen sterilisiert.

Damit widerlegt Meyer auch Darstellungen, die noch in der Chronik der Kästorfer Anstalten von 1983 zu finden sind, dass Müller die Bewohner in Kästorf beschützt haben soll. In der Begleitbroschüre, die von Freitag an unter anderem in der Stadtbibliothek und im Stadtarchiv kostenlos erhältlich ist, heißt es dazu: Vielmehr entwickelte Müller zusammen mit dem Göttinger Anstaltspsychiater Dr. Walter Gerson eine Methodik, die ein schnelles Umsetzen der Verfahren ermöglichte. Unterstützt wurden sie von den damaligen Leitern des Gifhorner Gesundheitsamtes Erich Braemer und Dr. Bernhard Franke, die für die Anträge auf Sterilisation zuständig waren. „Quellen belegen, dass es für die Beteiligten durchaus Handlungsspielräume gab“, erläutert der Historiker. So wurde Lernschwäche manchmal als harmlose mangelnde Intelligenz gedeutet, ein anderes Mal galt sie als Indiz für angeborenen Schwachsinn und hatte die Zwangssterilisation zur Folge.

Sogenannte Erbgesundheitsgerichte urteilten schließlich im Schnellverfahren. Danach ging alles ganz schnell, schildert Meyer den Ablauf. Die Gerichtsbeschlüsse kamen per Post, ein Mitarbeiter der Kästorfer Anstalten begleitete die Betroffenen ins Krankenhaus und holten sie nach fünf Tagen wieder ab.

Erstmals wird in der nächsten Woche in Kästorf ein Stolperstein verlegt, der an einen Menschen erinnert, der aus dem Landkreis Gifhorn stammt. Johannes Heuer wurde 1906 in Ettenbüttel geboren und ist dort mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Er kam 1931 in die Arbeiterkolonie Kästorf. im März 1934 diagnostizierte Gerson bei dem damals 27-jährigen Heuer „angeborenen Schwachsinn“. Schließlich durfte Heuer auf Weisung von Anstaltsleiter Müller die Kolonie ab Ende April nicht mehr verlassen – obwohl es dafür keine gesetzliche Grundlage gab. „Bis auf Weiteres wurde er also gegen seinen Willen in der Arbeiterkolonie Kästorf festgehalten.“ Im August wurde er sterilisiert, im September verließ er Kästorf. Danach verliert sich seine Spur.

Ganz anders bei dem ebenfalls 1906 geborenen Hans Schneider, der ebenfalls unter „angeborenem Schwachsinn“ litt. Er wurde im Krankenhaus in Celle sterilisiert, lebte bis 1940 wieder in Kästorf und erhielt am 17. November 1941 seinen Einberufungsbescheid zur Wehrmacht. Im Juni 1942 war er als Angehöriger einer Sanitätsausbildungsabteilung im niederländischen Venlo stationiert. Schließlich geriet er im Juni 1944 in Italien als Soldat eines Infanterieregiments in amerikanische Gefangenschaft. Von dort wurde er in die USA gebracht, später nach England und schließlich nach Munster-Lager in der Heide. Am 26. November 1947 traf er wieder in den Kästorfer Anstalten ein und lebte dort bis zu seinem Tod 1958.

Als „Gefahr für seine Umgebung“ galt laut Befund von Gerson und Franke der damals 35 Jahre alte Werner Bolz. Er verließ Kästorf nicht aus eigenem Wunsch, sondern wurde wegen des Verdachts auf „progressive Paralys“ 1935 verlegt in die Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim. Hinweise auf sein Schicksal erhielt Historiker Meyer von einem Besucher der Stolpersteinverlegung im vergangenen Jahr. Bolz wurde 1941 im Zuge der „Aktion T 4“ in einer als Dusche getarnten Gaskammer in der Anstalt Pirna-Sonnenstein ermordert – zusammen mit 102 weiteren Patienten, wie Meyer erläutert. T 4 steht für Tiergartenstraße 4 in Berlin. Dort befand sich die Zentraldienststelle, die für den systematischen Mord an 70.000 Menschen veranwortlich ist.

2022 brach Gunter Demnig die Stolperstein-Verlegung in Kästorf ab

Die Liste der Schicksale von Opfern des Nationalsozialismus in der Diakonie Kästorf ist noch lang. „Wir gehen jetzt von 72 statt 70 Betroffenen aus“, schreiben Hans-Peter Daub und Jens Rannenberg als Vorstand der Dachstiftung Diakonie. Für die verbleibenden 48 Betroffnenen solle in den nächsten Jahren je ein weiterer Stolperstein verlegt werden. „Sie erinnern uns daran, dass solches Unrecht geschehen ist und daran auch Menschen in der Diakonie mitwirkten“, heißt es in der Begleitbroschüre.

Die Verlegung der Stolpersteine beginnt am 12. Oktober um 9 Uhr. Künstler Gunter Demnig kommt dann zu dritten Mal nach Kästorf. 2022 hatte er die Verlegung von Stolpersteinen abgebrochen, weil das Fugenmaß nicht stimmte. Historiker Steffen Meyer und alle Beteiligten hoffen, dass diesmal alles optimal vorbereitet ist, die Steine zu setzen.