Harz. Der Abhörturm des NSA auf dem Wurmberg bei Braunlage konnte bis in die Verbindungslinien des Warschauer Paktes eindringen. 1994 wurde er abgerissen.

Am 2. Juli 1974 veröffentlicht die Goslarsche Zeitung ein Baustellenfoto mit kryptischem Bildtext: „Nato-Turm auf dem Wurmberg“, heißt es dort. Das Foto zeigt aber gar keinen Turm. Es zeigt auch keine Bauarbeiter, noch nicht einmal Baumaschinen. Stattdessen ist dort mit viel Phantasie lediglich ein Fundament im Nirgendwo zu erahnen. Kein Wunder, denn es ist die Hochzeit des Kalten Krieges. Keine Seite will dem Gegner geheime Informationen frei Haus liefern.

Am Wurmberg verlief die Grenze zwischen den Machtblöcken

Die Streitkräfte des Warschauer Vertrags und die der Nato-Länder stehen sich am Eisernen Vorhang unversöhnlich gegenüber. Direkt am Wurmberg verläuft dieses Bollwerk bestehend aus Stacheldrahtzäunen, Lichttrassen, Minen, Selbstschussanlagen und schwer bewaffneten Grenzern. Drüben die DDR, hier die BRD. Bipolare Welten, klare Feindbilder. Die Gefahr ist am Wurmberg der 70er Jahre nicht nur mit Händen greifbar. Sie schwirrt auch in Form unsichtbarer Mikrowellen durch die Luft.

Der Kalte Krieg tobt von der Öffentlichkeit unbemerkt hauptsächlich an der unsichtbaren Front. Zahlreiche Berge im Ost- und Westharz sind zu diesem Zeitpunkt schon weithin sichtbar mit elektronischen Ohren ausgestattet worden. Über die Bautätigkeiten von Militärs und Geheimdiensten wird in der Presse nur zurückhaltend berichtet. „Von einer amerikanischen Firma wird im Auftrag der USA und auf Bestreben des Bundes ein strategischer Abwehrturm gebaut“, wird lapidar mitgeteilt. Von der Bevölkerung sei gegen dieses Projekt von allgemeinem Nutzen kein Einwand erhoben worden. Trotz Bautätigkeit im Naturschutzgebiet.

Gut 40 Jahre sind seit dem Bau des 81 Meter hohen Spionage-Turms auf dem Wurmberg vergangen. Am 22. August 1994, vor 20 Jahren, wurde das markante Bauwerk gesprengt. Doch noch immer liegt der Mantel der Geheimhaltung über dem Wurmberg-Projekt mit der Nummer AN/FSQ-91, Tarnname „LA FAIRE VITE“. Weil es sich dabei um ein Projekt der National Security Agency (NSA) handelt und technische Unterlagen zu Abhörsystemen nach amerikanischem Recht 75 Jahre lang geheim zu halten sind, wird die Öffentlichkeit erst im Jahr 2050 die unzensierte Wahrheit über das ganze Ausmaß der Spionage am Wurmberg erfahren können.

Einiges ist in den zurückliegenden Jahrzehnten trotzdem durchgesickert: Der Hintergrund für den Bau des Wurmbergturms ist demnach eine groß angelegte Modernisierungswelle, die die NSA in Europa ab 1970 in mehreren Etappen an ihren Abhöranlagen vollzieht. Ihre noch aus den 60er Jahren stammenden dezentralen Strukturen sollen dabei zügig gestrafft werden.

Kern der Reform ist nach einem NSA-internen Papier die Schaffung eines zentralen „Operations Center“ in Deutschland, dem ein „Troop Command“, bestehend aus sechs Kompanien mit Außenstellen, sowie ein „Border Site Command“ mit elf grenznahen Erfassungsstellen unterstellt wird.

Abgehört wurden die Feinde wie die Verbündeten

Die „Field Station Augsburg“ wird zur neuen Zentrale. Dieser zugeordnet werden die fünf durch Aufklärungskompanien direkt betriebenen „Border Sites“ in Groß Gusborn, Wobeck, Hoher Meißner, Schneeberg und Eckstein. Auf dem Wurmberg entsteht die neue sechste Station. Daneben existieren noch sieben kleinere Detachments im europäischen Ausland sowie das Hauptquartier der NSA Europe in Frankfurt am Main.

Wie einem technischen Datenblatt der Herstellerfirma zu entnehmen ist, handelt es sich bei dem „LA FAIRE VITE“-System um ein bodengestütztes, automatisiertes Echtzeit-Erfassungssystem, womit gegnerische Kommunikationsverbindungen und Radarsignale überwacht werden können. Nach intensiven Messversuchen im Verlauf des Jahres 1971 entschließt sich die NSA für den Bau zweier zentraler Türme in der Bundesrepublik, den „North Tower“ auf dem Wurmberg und das südliche Pendant auf dem 325 km entfernten Eckstein in Bayern.

Diese zwei Türme der Firma Harris Electronic Systems sind Unikate und speziell für die Bedingungen an der innerdeutschen Grenze konzipiert. Die ringförmig um den Turm angeordneten Antennensysteme gestatten einen 240-Grad-Blick für die Signalerfassung im Frequenzbereich von 20 MHz bis 11 GHz.

Über die Details der Anlagen wurde nicht gesprochen

Damit kann die NSA ab 1975 nicht nur ungehindert in die Verbindungslinien der Land-, Luft- und Seestreitkräfte der UdSSR, der DDR und anderer Warschauer-Vertrags-Staaten eindringen, sondern auch die strategischen Raketentruppen der UdSSR sowie nachrichtendienstliche Funkverkehre und zivile Institutionen unter Kontrolle halten.

Aus vertraulichen Unterlagen der NSA geht hervor, dass in der Zentrale in Augsburg 1988 insgesamt nur 36 Computer-Auswertungsarbeitsplätze für die Analyse des gewaltigen Datenstroms aller „Border Sites“ zu Verfügung stehen. Acht dieser Plätze sind mit Spezialisten des Geheimdienstes der US-Luftwaffe besetzt.

Die Station auf dem Wurmberg ist von 1975 bis zum April 1992 nahezu ununterbrochen in Betrieb. Größere Instandsetzungsarbeiten, bei denen der komplette Turm eingerüstet werden muss, finden nur im Sommer 1985 statt.

Das Ende des Kalten Krieges bedeutet 1989 auch das Ende fast aller amerikanischen Abhörstationen entlang der einstigen Grenze. So heimlich, still und leise, wie sie gekommen sind, verlassen die wenigen Amerikaner 1992 den Wurmberg. Ihre Geheimnisse nehmen sie mit. Nach dem Ausbau der gesamten Technik aus dem Inneren des Turms werden 1993 die Antennensysteme noch vor Ort verschrottet.

Die NSA-Dienstwohnungen wurden Ferienwohnungen

Am 22. August 1994 wird publikumswirksam der Betonkörper gesprengt und die Fläche anschließend renaturiert. Die früheren Dienstwohnungen der NSA-Mitarbeiter im Flurweg 4 a in Braunlage sind heute als Ferienwohnungen für jedermann zu mieten. Was den Braunlagern bleibt, ist allein die Erinnerung an ihren „Nato-Turm“, der in Wirklichkeit keiner war. Die Silhouette des alten Wurmbergs ist ohnehin Geschichte, seit ein See für die Beschneiungsanlagen des erweiterten Skigebiets angelegt wurde. Und nun auch der baufällige Sprungturm auf der Spitze abgerissen wird.

DIE AUTOREN:

Söhnke Streckel (44) ist freier Journalist mit den Arbeitsschwerpunkten Politik, Militär und Geheimdienste; seit 2005 verantwortlich für ein Forschungsprojekt zum Thema „elektronische Spionage“ bei der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Sachsen Anhalt; Mitautor des investigativen Radio-Features „Spitzelnde Freunde – Deutschland und der amerikanische Geheimdienst NSA“, Sendetermin am 19. November, 22 Uhr, auf SWR 2.

Hansjörg Hörseljau (54) ist freier Fotograf. Von ihm sind zwei Bildbände über den Brocken und Umgebung erschienen, in denen auch alle Geheimdienstanlagen des Harzes abgebildet sind. Informationen zu „Der Brocken – ein freier Berg“ unter www.brockenbuch.de