Nienstedt. Auf dem Friedhof in Nienstedt erinnert ein Gedenkstein an die verborgene Geschichte der Region. Denn Wissenschaftler haben Bahnbrechendes entdeckt.

Der Friedhof in Nienstedt birgt ein Geheimnis: Ein kürzlich eingeweihter Gedenkstein soll an die Geschichte der Region am südlichen Rand des Harzes erinnern. Er steht für das Gedenken an etwa 50 Vorfahren der Einwohner rund um Osterode am Harz, deren sterbliche Überreste in der nahegelegenen Lichtenstein-Höhle zur Ruhe gebettet wurden – vor fast 3000 Jahren, während der Bronzezeit. Diplom-Geologe Firouz Vladi vom Förderverein deutsches Gipsmuseum und Karstwanderweg e. V. sagt zur Einweihung: „Es ist ja eigentlich nur eine kleine Begebenheit, dass wir heute heidnische Menschen auf einem evangelischen Friedhof ehren.“ In seiner Rede zur Einweihung nimmt Vladi seine Zuhörer mit auf eine Zeitreise.

Vor 2800 Jahren gibt es hier Arbeitsimmigranten aus Nord-Thüringen, so Vladi. Fünf Generationen wirken sie hier, bevor sie wieder verschwinden. Ein Grund für ihre Migration ist eine Salzsaline, in der sie wohl als Salzsieder tätig waren. Denn aufgrund fehlender Abnutzungen an den Gelenken der urzeitlichen Verstorbenen, gehen Forscher davon aus, dass es sich bei ihnen nicht um Bauern handelt. Harte Arbeit hätte ihre Knochen stärker abgenutzt. Die Gebeine von etwa 50 dieser Menschen werden nach ihrem Tod in der Lichtenstein-Höhle niedergelegt. Sie dient als Ort der sogenannten Sekundärbestattung: Die Toten werden zunächst normal bestattet. Nach einer gewissen Zeit im Boden werden dann Teile der Skelette erneut geborgen und in der Höhle beigesetzt.

Firouz Vladi: „Wunderbarerweise war die gefundene DNA in Knochen und Zähnen so gut erhalten, dass der Nachweis von vielen Verwandten in der Gegenwart, ja von zwei direkten Nachfahren im Sösetal geführt werden konnte.“
Firouz Vladi: „Wunderbarerweise war die gefundene DNA in Knochen und Zähnen so gut erhalten, dass der Nachweis von vielen Verwandten in der Gegenwart, ja von zwei direkten Nachfahren im Sösetal geführt werden konnte.“ © FMN | Ralf Gießler

3000 Jahre später: Nachfahren von Menschen aus der Bronzezeit leben immer noch am Harz

Bei ihrer Forschung entdecken Wissenschaftler neben den Gebeinen auch andere Hinterlassenschaften und untersuchen diese: „Wunderbarerweise war die gefundene DNA in Knochen und Zähnen so gut erhalten, dass der Nachweis von vielen Verwandten in der Gegenwart, ja von zwei direkten Nachfahren im Sösetal geführt werden konnte“, erklärt Vladi. „Damit sind die von der Kreisarchäologie geborgenen und auf das Beste dokumentierten Knochen nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Sie sind die Vorfahren heute hier lebender Menschen, mithin Familie! Dies ist nun Anlass, an geeignetem Orte diese zugleich älteste Familie der Welt durch ein Denkmal zu würdigen, natürlich auf dem heute zugehörigen Friedhof in Nienstedt.“

Der Friedhof Nienstedt gedenkt jetzt der Menschen, die hier vor 50 Jahren als Arbeitsmigraten aus Thüringen Salz siedeten.
Der Friedhof Nienstedt gedenkt jetzt der Menschen, die hier vor 50 Jahren als Arbeitsmigraten aus Thüringen Salz siedeten. © FMN | Kevin Kulke

Insgesamt seien 3800 Knochen ausgegraben worden, berichtet Vladi. Sie lagern jetzt in einer Kühlkammer der Georg-August-Universität in Göttingen. Firouz Vladi hebt hervor, dass es sich bei den Knochen nicht um Objekte handele – sondern um Familie. Auch Uwe Rumberg-Schimmelpfeng ergreift bei der Einweihung als Pastor des Pfarrverbundes St. Martin Nienstedt-Förste das Wort: „Wir wissen nicht, woran diese Menschen geglaubt haben, denn es gibt nichts Schriftliches darüber. Dennoch war es ihnen offensichtlich wichtig, ihre Verstorbenen zu begraben. Sie hätten sich sicher nicht träumen lassen, dass gut 3000 Jahre später Menschen hier auf dem Friedhof ihrer gedenken.“ Auch Manfred Huchthausen fällt es schwer, die lange Zeit zu begreifen. Er ist einer der zwei direkten Nachfahren der Toten: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Familie 3000 Jahre hier an diesem Ort gewohnt haben soll.“

Diplom-Geologe Firouz Vladi vom Förderverein deutsches Gipsmuseum und Karstwanderweg e. V., Uwe Schridde, Rump & Salzmann – aus ihrem Steinbruch in Ührde kam der Gedenkstein – und Manfred Huchthausen, einer der zwei direkten Nachfahren der Menschen, die hier einst bestattet wurden.
Diplom-Geologe Firouz Vladi vom Förderverein deutsches Gipsmuseum und Karstwanderweg e. V., Uwe Schridde, Rump & Salzmann – aus ihrem Steinbruch in Ührde kam der Gedenkstein – und Manfred Huchthausen, einer der zwei direkten Nachfahren der Menschen, die hier einst bestattet wurden. © FMN | Ralf Gießler

Wurde Geheimnis des Salzsiedens im Harz gelüftet?

Er erzählt schmunzelnd, dass er einst von einem Fernseh-Team als der „3000-Jährige“ betitelt wurde. Unter den Gästen ist auch Katharina von Ehren. Als Studentin, im Jahr 1980, erwies sie sich als mutig: Sie zwängte sich bei der Erkundung der Lichtenstein-Höhle durch eine schmale Felsspalte ins Innere: „Der Spalt war wirklich ausgesprochen eng. Es roch und die Luft wehte hindurch. Die anderen, die draußen geblieben waren, hatten Angst um mich. Im Inneren habe ich dann Ringe entdeckt und Knochen gefunden“, erzählt sie. Mit ein paar Knochen sei sie dann wieder hinausgekrochen. Heute würde sie sicher Platzangst bekommen, sagt sie. Damals aber hatte sie jedenfalls keine.

Der Friedhof Nienstedt oberhalb von Förste im herbstlichen Gewand im Oktober 2023.
Der Friedhof Nienstedt oberhalb von Förste im herbstlichen Gewand im Oktober 2023. © FMN | Kevin Kulke

Einige Geheimnisse seien immer noch offen, wie Firouz Vladi betont. Er wünscht sich sehr, dass die frühere Saline noch gefunden werde, in der die urzeitlichen Einwohner einst malochten. Er bittet deswegen alle Menschen in der Gegend: „Seien sie wachsam beim Graben im heimischen Garten und melden sie eventuell gefundene Tonschalen. Denn diese haben bei der Salzgewinnung eine wichtige Rolle gespielt!“ Die Frage, wie mit Tongefäßen Salz gewonnen werden konnte, stellte Forscher lange Zeit vor Rätsel.

Jahrzehntelang war die Methode und Technologie der urgeschichtlichen Siedesalzgewinnung mithilfe von Geräten aus gebranntem Ton umstritten. Entsprechende Siedeversuche waren stets gescheitert. Schuld daran waren die porösen Tonwände, durch welche die Sole sickern konnte. Anfang der 1970er Jahre unternahm jedoch der französische Archäologe P.-L. Gouletquer eine Expedition in mehrere Gebiete Zentralafrikas. In ihnen wird noch bis heute nach altertümlichen Methoden Salz gewonnen. Im Manga – einem Landstrich im südöstlichen Niger – konnten die Forscher den Salzgewinnungsprozess beobachten und somit das Geheimnis lüften: Die Siedegefäße wurden durch ein starkes Feuer erhitzt. In jeden der Tontiegel wurde dann eine kleine Menge einer Mischung aus Salzlösung und Kuhmist eingefüllt. Sie verdampfte umgehend und schloss die Poren der porösen Tonschalen. Erst danach begann das eigentliche Sieden. Wurden die Tiegel mit Sole gefüllt, verdampfte sie schnell und zurückblieb das reine Salz.

Gruppenbild. Die Zweite von links ist Katharina von Ehren, die sich einst als Studentin durch eine enge Spalte in die Lichtenstein-Höhle zwängte.
Gruppenbild. Die Zweite von links ist Katharina von Ehren, die sich einst als Studentin durch eine enge Spalte in die Lichtenstein-Höhle zwängte. © FMN | Ralf Gießler

Mehr aktuelle News aus der Region Osterode, Harz und Göttingen:

Kurz, knapp, krass informiert: HK Kompakt, der Newsletter vom Harz Kurier, fasst die wichtigen News aus Osterode und dem Südharz zusammen: Hier kostenlos für den täglichen Newsletter anmelden!