Der Braunschweiger Leo Könneke studiert in Nancy. In einem Meinungsbeitrag schildert er, wie er die Rentenproteste gegen Präsident Macron erlebt.

Unser Nachbar will die Revolution. Er zündet Mülltonnen an, blockiert Universitätsgelände und versammelt sich hunderttausendfach auf der Straße. Das Urteil in Deutschland scheint schnell gefällt: Die Proteste destabilisieren das Land, die Angriffe gegen die Polizei unterminieren das Gewaltmonopol des Staates. Weitere Demonstrationen, wie es schon viele zuvor gab, das gehört eben zu Frankreich. In dieses Mantra verfallen die deutschen Leitmedien gerne, es ist komfortabel, dieses Weltbild anzubieten.

Der Braunschweiger Leo Könneke studiert im französischen Nancy und hat einen Gastbeitrag für unsere Zeitung geschrieben 
Der Braunschweiger Leo Könneke studiert im französischen Nancy und hat einen Gastbeitrag für unsere Zeitung geschrieben  © Leo Könneke | Leo Könneke

Doch es ist unvollständig. Was in Frankreich gerade passiert, hat revolutionäres Potenzial! Anders als in der Gelbwestenbewegung kulminiert in diesen Protesten eine immense Anzahl unterschiedlicher Interessen, die zusammen eine explosive Kraft entfalten. Mit dem folgenden Artikel möchte ich die Darstellung der Situation um ihre Vereinfachungen bereinigen und erklären, weshalb die Legitimität der Bewegung größer ist als in Deutschland wahrgenommen.

Macrons Beratungsresistenz

Ein gepflasterter Platz mitten in der Altstadt von Nancy. Rechts und links mondäne Gebäude, die Oper und ein Museum, vorne das Rathaus, hinten ein Triumphbogen. Normalerweise ist hier nicht viel los, vor allem nicht im verregneten Frühling. Doch heute drängeln sich tausende Menschen auf diesem Platz. Plötzlich knallt es: Die Leute wissen, was das war. Sie reißen sich ihre Masken vor das Gesicht und holen ihre medizinischen Salzlösungen aus den Taschen. Ohne Vorwarnung, haben die schwerbewaffneten Polizisten Reizgasbomben in die Masse geworfen. Warum? Vielleicht um ihre Überlegenheit zu zeigen, vielleicht um Angst zu schüren, ich weiß es nicht. Einsätze wie diese sind im Kampf der Straße in Frankreich keine Seltenheit. Die Fronten sind verhärtet.

Der Widerstand gegen den Staat ist ein Widerstand gegen die Polizei, könnte man sagen. Man könnte aber auch sagen: Die Polizisten nutzen ihre physische Überlegenheit aus und bringen sie gegenüber einer friedlichen, angemeldeten Demonstration rücksichtslos zum Ausdruck.

Frei nach Montesquieu: Wer macht hat, wird sich irgendwann an ihr vergreifen

Doch es bringt nichts, in der Debatte um Polizeigewalt Schuldige zu suchen. Was aber etwas bringt, ist, aus ihrer Analyse die richtigen Schlüsse zu ziehen. Eine Kernkompetenz, die Frankreichs aktueller Regierung fehlt, ist Ursachenbehebung. Ich kann jedem ausgebüxten Schaf fünfmal hinterherlaufen, es wird immer wieder ausbrechen, wenn ich nicht das Loch im Weidezaun schließe. Macrons Regierung ist momentan ein Musterbeispiel für Beratungsresistenz. Und man kann ihm daraus noch nicht mal einen Vorwurf machen: er kann nicht mehr wiedergewählt werden, hat nichts zu verlieren und seine Verfassung legt ihm alles Besteck in die Hand, um seine Vorhaben reibungsignorierend durchzusetzen.

„Jeder Mensch, der Macht hat, wird sich an ihr vergreifen; er geht so weit, bis er an seine Grenzen stößt“, stellte der Rechtsphilosoph Montesquieu (1689-1755) fest. Es liegt in der Natur des Menschen, seine eigenen Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen. Macron ist nicht der Gutmensch, für den die Deutschen ihn halten. Er ist genauso ein Machtmensch wie die meisten Politikerinnen und Politiker dieser Erde. Die französische Verfassung sollte eigentlich der Ort sein, an dem Macron seine Grenzen aufgezeigt werden.

Idee von de Gaulle: Verfassung sichert in Krisenzeiten Machtmonopol des Präsidenten

Werfen wir einen Blick in sie hinein. Geschaffen wurde sie im Jahr 1958 unter ihrem ersten Präsidenten Charles de Gaulle. Sie sollte eine Übergangslösung werden. Im Angesicht einer instabilen weltpolitischen Lage, schneiderte sich de Gaulle eine Verfassung zurecht, die ihm in Krisenzeiten ein Machtmonopol sichern sollte. Es findet sich sogar ein aus der Weimarer Verfassung kopierter Artikel wieder, der den Präsidenten der Republik per Dekret, ohne Parlamentskonsultation regieren lässt. Wie nicht anders zu erwarten, wandte de Gaulle besagten Artikel 16 während seiner Amtszeit an, wir erinnern uns an Montesquieu. Doch nicht nur Artikel 16 bereitet in seiner Demokratiekompatibilität Probleme.

Ein Grund des enormen Wachstums der Protestbewegung in den letzten Wochen ist die Anwendung des Artikels 49, Absatz 3. Dieser Artikel erlaubt der Regierung, ein Gesetz an ein Misstrauensvotum zu koppeln, also das Parlament vor die Frage zu stellen, ob das Gesetz passieren darf oder andernfalls die Regierung zurücktritt. Und da keine Oppositionspartei aktuell in der Lage wäre, von einer spontanen Neuwahl zu profitieren und sich die zersplitterte Parteienlandschaft nie hinter einem gemeinsamen Misstrauensantrag vereinen kann, wird lieber gegen die Abwahl der Regierung gestimmt und die Gesetze Macrons treten in Kraft. Mit dem Artikel 49.3 regiert sich Macron mit seiner Premierministerin fleißig durch die Amtszeit. Demokratie sieht anders aus.

Was Frankreichs Verfassung vom deutschen Grundgesetz unterscheidet

Das Verhältnis zwischen der französischen Bevölkerung und ihrem Staat ist ein ganz anderes als in Deutschland. Das Land gehört den Bürgerinnen und Bürgern, die Französische Revolution steckt in der DNA der Bevölkerung. Sie schafft sich durch den Widerstand ihre eigene nationale Identität, ihre eigene Nation. Die Verfassung der fünften Republik ist die der fünften Republik, es spricht nichts dagegen, eine der sechsten zu verfassen. Sie ist lange nicht so unumstößlich wie das Grundgesetz. Leider ist es mit der Verfassung wie mit jeder Verfassung: Sie hat etwas dagegen, sich selbst abzuschaffen. Wenn sie das gewollt hätte, hätte sie es schon längst getan.

Die Rolle des Präsidenten wurde unter Macron aufgrund seiner inflationären Verwendung des 49.3 immer mehr zu der eines Monarchen ausgebaut. Und was Franzosen mit ihren Königen gerne machte, wissen wir. Doch er ist nur ein Produkt, ein Opfer dieses für die Gesellschaft höchst toxischen Selbsterhaltungswahns der Verfassung.

Eingriff in die Privatsphäre

Mit einer weiteren Vereinfachung möchte ich noch aufräumen: die Menschenmenge auf den Straßen ist sehr heterogen. Anders als gerne dargestellt, vereinen sich in den Protesten viele unterschiedliche Generationen hinter einem gemeinsamen Ziel, der Demokratisierung ihres Landes. Es stimmt, die junge Generation ist am sichtbarsten. Aber die Bewegung auf das Engagement der protestierenden Studierenden zu reduzieren, ist falsch.

Warum versteht man in Deutschland so schwer, was in Frankreich los ist? Zunächst ist es wichtig, sich auf den Grund der Proteste zu besinnen, die Rentenreform. In anderen Worten: zwei Jahre mehr Arbeit. Der Bezug zur Arbeit spielt eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Nachvollziehbarkeit: Wird sich in Deutschland viel über die Arbeit definiert, spielt sie in Frankreich eine geringe Rolle. Es wird wenig über die Arbeit geredet, sie ist nur Mittel zum Zweck, nicht Mittel zur Selbsterfüllung. Ein gesundes Verhältnis, wenn man mich fragt. Somit wird die Anhebung des Eintrittsalters zum Angriff auf die französische Kultur und die Lebensart der Menschen. Vielleicht lässt sich die Debatte in etwa mit dem deutschen Widerstand gegen ein Tempolimit gleichsetzen, auch wenn es für letzteren wesentlich weniger rationale Argumente gibt als für die Beibehaltung eines frühen Renteneintritts.

Hinzu kommt das Verständnis für eine starke nationale Identität. Schmoren die Deutschen häufig in ihrem eigenen Meinungssaft, existiert in Frankreich eine viel größere soziale Solidarität in der Bevölkerung, die sich schnell gegen die staatliche Autorität vereinen lässt. Es gibt viel weniger politische Privatsphäre als in Deutschland. Die große Politisierung der Bevölkerung ist ebenfalls mit dem französischen Zentralismus zu erklären. Der deutsche Föderalismus führt zu weniger nationaler Polarisierung der öffentlichen Meinung. In Frankreich jedoch drückt sich eine Unzufriedenheit sofort auf nationaler Ebene aus, was sensible Thema gleich ganz oben auf die Agenda setzt und jede und jeden zur Meinungsbildung aufruft.

Was in Deutschland anders ist

Der letzte Erklärungsansatz bezieht sich auf das Wahlsystem. Die politische Landschaft Deutschlands ist weniger polarisiert als im Nachbarland, weil wir ein personalisiertes Verhältniswahlrecht anwenden und kein Mehrheitswahlrecht, das häufig zu strategischen Wahlentscheidungen und einer großen Bipolarität der Themen führt. Macron wurde nur gewählt, weil es in Marine Le Pen keine tragfähige Alternative gab. Da haben wir die Verfassung schon wieder als Schuldige ertappt! Eine große Mehrheit in Frankreich ist unzufrieden mit Macron, und zwar nicht erst seit nach seiner Wahl, sondern auch schon davor.

Ein letzter Absatz gilt Ihnen, liebe Leserinnen und Leser: In Deutschland genießen Sie ein stabiles, demokratisches Grundgesetz, das offenbar wenig Anlass zu Kritik gibt. In Frankreich sieht das mit der Verfassung, wie oben beschrieben, ganz anders aus. Ein Umsturz der Regierung ist für viele Franzosen eine ernsthafte Option. Das ist unverständlich für Sie? Mag sein. Sie haben allerdings auch anderes politisches System – mit Kanzler und Kabinett. Ich finde, die Menschen in Deutschland sollten schleunigst damit aufhören, die Proteste der Franzosen zu belächeln und als Kulturauswuchs zu verunglimpfen. Sie sollten in ihrem Nachbarn ein Vorbild für den Kampf für Demokratie und Menschenrechte sehen. Frankreich ist ein Land, das unter Beweis stellt, wie viel ihm seine Meinungsfreiheit wert ist, davon kann sich Deutschland wirklich eine Scheibe abschneiden.

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Zum Autor

Leo Könneke (20) studiert an der Universität Sciences Po Paris (Standort Nancy) deutsch-französische und europäische Beziehungen. Sein Abitur hat er 2021 am Martino-Katharineum in Braunschweig gemacht. Vor seinem Studium absolvierte er ein Freiwilliges Soziales Jahr in Brest (Bretagne). Im Jahr 2021 schrieb Könneke bereits einen Gastbeitrag für unsere Zeitung zu den Folgen der Pandemie für Schülerinnen und Schüler.

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