Braunlage. Borkenkäfer hinterlassen im Harz tote Wälder. Damit schnell wilder Urwald wächst, helfen Schüler im Jugendwaldeinsatz der Natur auf die Sprünge.

Knack. Lena (13) hat die Astschere zugedrückt. Eine junge Fichte kippt zur Seite. Lenas Freundin Lilly packt das Bäumchen und zieht es weg. So geht das schon seit gut zwei Stunden. 175 Fichten haben Lena, Lilly und ihre Klassenkameraden von der Gesamtschule Oyten heute Morgen abgeknipst, damit die kleinen Buchen wieder Licht bekommen. „Gestern habt ihr über 200 geschafft, da geht noch was“, sagt Forstwirt Walter Müller. Gemeinsam mit seiner Kollegin Stephanie Klinge leitet der Harzer die Jugendlichen aus dem Bremer Umland an. Der Auftrag der Achtklässler: Buchen freistellen.

Vier Zecken an einem Tag

Um 7.30 Uhr ist der Trupp am Jugendwaldheim Brunnenbachsmühle mit einem grünen Bulli gestartet. Jetzt, um kurz nach zehn, ist es selbst hier unten im schluchtartigen Odertal schwül-heiß.

Ein eingespieltes Team: Lilly (rechts) hält die Äste zur Seite, Lena durchtrennt mit der Astschere den dünnen Stamm der jungen Fichte. Wenn die Astschere bei dickeren Stämmen versagt, sägt Lilly mit dem Fuchsschwanz.
Ein eingespieltes Team: Lilly (rechts) hält die Äste zur Seite, Lena durchtrennt mit der Astschere den dünnen Stamm der jungen Fichte. Wenn die Astschere bei dickeren Stämmen versagt, sägt Lilly mit dem Fuchsschwanz. © BZV | David Mache

„Auf meiner Stirn kannste Spiegeleier braten“, ächzt der 13-jährige Lennard. Gerade hat er mit einem Fuchsschwanz eine Fichte abgesägt. Er schwitzt, kein Wunder in seinen langen Klamotten. Doch die sind Pflicht – „gestern hatte ich schon vier Zecken“.

„Wir machen Pause!“, ruft Walter Müller. Die Schüler, Lehrerin Ingrid Berger und die Forstwirte kraxeln in den Hochwald, um sich im Schatten auf Baumstümpfen niederzulassen. „Wuff!“ „Wuff!“ Aus dem Dickicht tauchen die Hunde Aika und Bessy auf. Thomas Schwerdt führt seine Beagle an der Leine. Schwerdt, studierter Forstwirt mit viel pädagogischer Erfahrung, leitet das Jugendwaldheim des Nationalparks. Er ist zufrieden: „Klasse, ihr habt heute ja schon wieder richtig was geschafft.“

Der Borkenkäfer – hilfreich im Nationalpark, fatal im Wirtschaftswald

Der 44-Jährige blickt über die Lichtung. Zwischen hohen Grasbüscheln und Farnen stehen junge Buchen, die vor etwa zehn Jahren aufgeforstet wurden. Etliche der kleinen, zarten Laubbäume werden von schneller wachsenden Fichten überragt. „Dort drüben müssen wir die Buchen noch freistellen. Die Schüler sind eine große Hilfe, denn unsere Forstwirte sind fast alle im Borkenkäfer“, erklärt Schwerdt.

Jugendwaldeinsatz in Braunlage zur Rettung des Harzes

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    Borkenkäfer – das böse B-Wort für alle, die sich im Harz nach lauschigem Wald-Idyll sehnen. Für Thomas Schwerdt und seine Kollegen vom Nationalpark hingegen ist der Borkenkäfer eher ein Katalysator. „Er hilft beim Waldumbau und beschleunigt den Wandel von der Fichten-Monokultur zu einem wildwachsenden Urwald. Und den wollen wir ja schließlich im Nationalpark“, sagt Schwerdt. Um gleich darauf einzuschränken: „Für den Wirtschaftswald und die Holzernte ist der Borkenkäfer natürlich fatal.“

    Forstwirt Walter Müller (links) leitet die Jugendlichen im Odertal an. Die Arbeitseinsätze sind so geplant, dass sie auch wirklich gefahrlos von Schülern erledigt werden können.
    Forstwirt Walter Müller (links) leitet die Jugendlichen im Odertal an. Die Arbeitseinsätze sind so geplant, dass sie auch wirklich gefahrlos von Schülern erledigt werden können. © BZV | David Mache

    Ein Borkenkäfer-Weibchen bringt es auf 100.000 Nachkommen

    In der Momentaufnahme bieten die befallenen Waldflächen jedenfalls ein trostloses, ja, verstörendes Bild. Weiter oben, an den steilen Hängen des Rehbergs, ist der Wald nicht mehr grün, sondern grau-braun. Die Borkenkäfer haben sich dort in diesem heißen Sommer explosionsartig ausgebreitet. Die Fichten sind durch die Wetterextreme der vergangenen beiden Jahre stark geschwächt. „Starkregen im Sommer 2017, Orkan im folgenden Winter und Frühjahr, der Dürresommer 2018 und nun schon wieder Hitze und Trockenheit – das ist einfach zu viel“, zählt Thomas Schwerdt die wesentlichen Faktoren auf. Heute haben die Borkenkäfer leichtes Spiel, wenn sie sich durch die Rinde fressen. Gesunde, mit ausreichend Wasser versorgte Bäume würden jetzt Harz produzieren, die Eindringlinge derbe verkleben und den Bohrangriff auf diese Art abwehren.

    Ein etwa fünf Millimeter langer Borkenkäfer neben Fichtennadeln auf einem Baumstumpf.
    Ein etwa fünf Millimeter langer Borkenkäfer neben Fichtennadeln auf einem Baumstumpf. © BZV | David Mache

    Doch wenn Wasser fehlt, fehlt auch Harz. So legen die Käfer-Männchen sogenannte Rammelkammern an, in die sie per Duftstoff Weibchen zur Begattung locken. Die Weibchen fressen dann Muttergänge zur Eiablage. Auch die geschlüpften Larven zeichnen sich durch zügellosen Appetit aus, fressen sich in Richtung der Muttergänge – und schließlich an die Oberfläche, um schnurstracks zum Nachbarbaum zu fliegen und diesen anzubohren. In einem Sommer kann ein Käferweibchen so für bis zu 100.000 Nachkommen (!) sorgen. Die Innenseite der Baumrinde zeigt das charakteristische Fraßbild, das stark an ein aufgeschlagenes Buch erinnert. Deshalb sprechen Förster statt vom Borkenkäfer vom Buchdrucker, der die Leitungsbahnen unter der Rinde so nachhaltig zerstört, dass befallene Bäume nicht mehr ausreichend Wasser und Nährstoffe transportieren und sterben.

    Zwei Wochen ohne Smartphone

    Auf den ersten Blick besteht der frühere Fichtenforst dann nur noch aus toten, grauen Stacheln. Doch am Boden entsteht längst neues Leben. „Bei uns kann man der Wildnis beim Wachsen zusehen. Man muss nur aus dem Auto aussteigen, in den Wald gehen und die Augen öffnen. Diese neue Wildnis ist sehr lebendig und abwechslungsreich“, schwärmt Thomas Schwerdt. Er hat auf einem Baumstumpf einen der etwa fünf Millimeter langen Borkenkäfer entdeckt. „Krass. Die hätte ich mir viel größer vorgestellt“, sagt Lilly. Sie und ihre Mitschüler lernen in ihren zwei Wochen Jugendwaldeinsatz wirklich viel über das Ökosystem Wald und den Klimawandel, über Umweltschutz und Nachhaltigkeit. „Mir macht’s Spaß. Es ist ein gutes Gefühl, der Natur ein bisschen zu helfen“, sagt Lena.

    Die Schüler lernen hier notgedrungen auch Verzicht, denn das Jugendwaldheim Brunnenbachsmühle liegt gut drei Kilometer außerhalb von Braunlage im Funkloch. „Och, so schlimm ist es gar nicht ohne Handy. Wir Mädels quatschen viel miteinander“, sagt Lilly. Zwei Wochen Digital Detox – für die Generation Smartphone eine echte „Challenge“!

    Am Jugendwaldheim Brunnenbachsmühle, drei Kilometer außerhalb von Braunlage, gibt es keinen Mobilfunkempfang. Die Oytener Gesamtschüler erleben hier zwei intensive Wochen im Klassenverband.
    Am Jugendwaldheim Brunnenbachsmühle, drei Kilometer außerhalb von Braunlage, gibt es keinen Mobilfunkempfang. Die Oytener Gesamtschüler erleben hier zwei intensive Wochen im Klassenverband. © BZV | David Mache

    Im Jugendwaldheim geht es um Umweltschutz und Nachhaltigkeit

    Die Netzabdeckung war noch kein Thema, als die Niedersächsischen Landesforsten 1967 den Bahnhof Brunnenbachsmühle an der stillgelegten Südharzbahn zum Jugendwaldheim umbauten. Inzwischen betreibt der Nationalpark Harz die Bildungseinrichtung mit Seminarraum, Speisesaal in der ehemaligen Bahnhofsgaststätte und 34 Schlafplätzen in Stockbetten. Etwa 400 Schüler sind hier zwischen März und November für eine oder zwei Wochen im Jugendwaldeinsatz. Morgens wird malocht – Bäume pflanzen und pflegen, Zäune bauen oder Brennholz hauen – nachmittags gibt es Lern- oder Freizeitangebote – Grillen, Fußballspielen, Ausflüge.

    Felix, Maja, Louis und Olympia vor dem Jugendwaldheim. Am Nachmittag beantworten sie bei einer Schnitzeljagd mit GPS-Empfängern Fragen zum Waldwandel im Harz.
    Felix, Maja, Louis und Olympia vor dem Jugendwaldheim. Am Nachmittag beantworten sie bei einer Schnitzeljagd mit GPS-Empfängern Fragen zum Waldwandel im Harz. © BZV | David Mache

    „Ursprünglich sollte nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgeforstet werden, weil es durch Reparationshiebe große Freiflächen gab. Heute geht es um Umweltbildung, die viele Schulen in ihren Programmen verankert haben“, erläutert Thomas Schwerdt. Er möchte Jugendlichen verdeutlichen, dass sie Teil ihrer Umwelt sind, dass ihr Lebensstil Konsequenzen hat. Er lädt sie ein, sich eine eigene Meinung über die Nationalpark-Idee, über Urwälder, den Luchs und den Wolf zu bilden. Und er möchte erste Einblicke in die Arbeitswelt vermitteln. „Dass uns das nicht bei allen Schülern gelingt, ist mir bewusst.“

    Umso lieber erzählt Schwerdt von einem ganz persönlichen Aha-Erlebnis. Kurz nach der 50-Jahr-Feier des Jugendwaldheims 2017 stand eine ältere Frau vor dem Haus. Der Hausherr bat sie herein. „Die Frau war mit einer der ersten Schülergruppen hier. Sie konnte sich an erstaunlich viele Dinge erinnern, vor allem aber an die Gemeinschaft im Klassenverband und die anstrengende, aber sehr befriedigende Waldarbeit.“

    Der Nationalpark Harz erklärt den Wald-Wandel

    Neben dem Jugendwaldheim bespielen auch alle anderen Einrichtungen des Nationalparks Harz das Thema „Waldentwicklung“. Im Besucherzentrum Torfhaus zeigen Fotoreihen, wie binnen zehn Jahren aus dem „bizarren Silberwald der Borkenkäfer“ grünender Urwald geworden ist. „Wir sollten den Mut haben, der Natur zu vertrauen. Der Wald wandelt sich rasant, aber es wird ihn immer geben“, prophezeit Heike Albrecht. Die Leiterin des Besucherzentrums erlebt immer wieder, wie Besucher die Ausstellung beruhigt und positiv verlassen: „Sie haben bei uns gesehen, wie schnell Neues in der Natur entstehen kann.“

    Waldwandel im Nationalpark Harz, hier an der Eckertalsperre: Im Hintergrund stehen noch die grauen Stämme abgestorbener Fichten. Vorne wachsen junge Laubbäume nach, Mischwald entsteht.
    Waldwandel im Nationalpark Harz, hier an der Eckertalsperre: Im Hintergrund stehen noch die grauen Stämme abgestorbener Fichten. Vorne wachsen junge Laubbäume nach, Mischwald entsteht. © picture alliance/dpa | Julian Stratenschulte

    Damit spricht sie wohl den Knackpunkt der gesamten Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte an: Wir überblicken doch eher kurze zeitliche Ausschnitte, langfristiges Denken bleibt uns fremd. Greta Thunberg, Fridays for Future – gut und schön. Die Folgen des Klimawandels sind auch vor unserer Haustür – etwa im Harzer Wald – längst spürbar. Die Nationalparkhäuser und Bildungseinrichtungen im Harz (siehe Karte links) eignen sich exzellent, um mehr über die Veränderungen zu erfahren.

    Der Film „Baustelle Natur“ zum Borkenkäfer und Urwald im Nationalpark Harz
    Die Website des Nationalparks Harz
    Die Website des Jugendwaldheims Brunnenbachsmühle
    Die Webseite des Nationalpark-Besucherzentrums Torfhaus

    Besucherzentren, Nationalparkhäuser, besondere Themenwege und Bildungseinrichtungen im Nationalpark Harz.
    Besucherzentren, Nationalparkhäuser, besondere Themenwege und Bildungseinrichtungen im Nationalpark Harz. © Jürgen Runo | Jürgen Runo