Salzgitter. Matthias Wilhelm löst Wolfgang Räschke an der Spitze der IG Metall Salzgitter-Peine ab. Im Interview warnen sie vor einer sozialen Spaltung.

Im von der Stahlproduktion, dem Fahrzeug- und Kompontenbau geprägten Salzgitter hat die IG Metall von jeher eine starke Position. Zum Jahreswechsel gab es an der Spitze der Gewerkschaft einen Wechsel: Ihr bisheriger Chef Wolfgang Räschke (62) wechselte in die passive Phase der Altersteilzeit, Nachfolger wurde Matthias Wilhelm (51). Im Interview sprechen die beiden Gewerkschafter über sozialen Sprengstoff, Wettbewerbsfähigkeit und die wachsende Skepsis vieler Menschen gegenüber klassischen Organisationen und Eliten.

Herr Räschke, Sie waren 28 Jahre für die IG Metall in Salzgitter tätig, davon 16 Jahre als 1. Bevollmächtigter. Welche Erfahrungen haben Sie besonders geprägt?

Das waren vier Ereignisse, bei denen es jedes Mal um den Erhalt von tausenden Arbeitsplätzen in Salzgitter ging. Dazu gehört die schwere Krise von Volkswagen 1993 und 1994, die zur Einführung der Viertagewoche beziehungsweise der 28,8-Stunden-Woche führte. Damals standen in Deutschland 30.000 Arbeitsplätze zur Disposition. Wir mussten gegen Widerstand aus den eigenen Reihen kämpfen, um die Reduzierung der Arbeitszeit durchzusetzen. Leider wurde diese Regelung 2006 zurückgedreht, weil andere Industrie-Branchen nicht gefolgt sind.

Das zweite Ereignis war die Herauslösung der Salzgitter AG aus dem Preussag-Konzern 1998, die zur Eigenständigkeit der Salzgitter AG geführt hat. Dieses Ziel haben wir gemeinsam mit der Politik erreicht. Die Entscheidung war richtig und trägt bis heute. Alles andere als die Eigenständigkeit hätte den Stahl-Standort Salzgitter infrage gestellt.

Sehr beschäftigt hat uns auch die Umstrukturierung des MAN-Werks in Salzgitter. Zuerst wurde die Bus-Produktion abgezogen, 2016 dann die LKW-Fertigung. Das war nicht einfach und hat die Belegschaft sehr getroffen, die Fahrzeug-Produktion war ihr Stolz. Die Neuaufstellung als Komponenten- und Logistik-Standort für MAN war aber richtig, weil so Arbeitsplätze gesichert werden. Zu dieser Lösung wäre es sicher nicht gekommen, wenn MAN zwischenzeitlich nicht von VW übernommen worden wäre. Unsere Erfahrung mit MAN war, dass Zusagen – etwa zu Investitionen – nicht zuverlässig eingehalten wurden. Bei VW ist das anders.

Ein großer Kampf war zudem der Erhalt des Alstom-Werks in Salzgitter. 2010/2011 und 2014 stand der Standort zur Disposition. Durch die Solidarität der Belegschaften aus vielen Betrieben in Salzgitter und mit Unterstützung der Politik konnte die Schließung abgewendet werden.

Welchen Anteil hat die IG Metall daran, dass die von Ihnen genannten Standorte nicht geschlossen wurden?

Räschke: Die IG Metall hat es geschafft, den Widerstand der Beschäftigten zu organisieren. Dieser Widerstand hat die Kompromisse, die zum Erhalt der Standorte geführt haben, erst ermöglicht. Wann immer es notwendig ist, sind die Belegschaften in die Auseinandersetzung gegangen.

Immer auch unterstützt durch die breite Solidarität aus anderen Betrieben.

Haben Sie über die Jahre eine Routine des Auseinandersetzens entwickelt? Ist der Streit nichts Besonderes mehr für Sie?

Wilhelm: Doch, denn der Auslöser ist immer die Sorge, dass Arbeitsplätze verloren werden könnten. Das zwingt uns zu großer Verantwortung, die uns immer bewusst ist. Daher sind wir auf das Lösen von Problemen fokussiert.

Außerdem wissen wir nie, wie solch ein Konflikt ausgeht.

Die Zahl der Betriebe ohne Tarifbindung wächst. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Sie ist eine Folge der vom ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2003 umgesetzten Agenda 2010. Durch sie wird der Druck auf Arbeitslose erhöht, in den Niedriglohnsektor zu wechseln, weil sonst der Verlust des Arbeitslosengeldes droht. Inzwischen arbeiten 23 bis 25 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Und nicht nur das: Die Differenz der Einkommen dieser Beschäftigten zu den tarifgebundenen Arbeitnehmern wird immer größer. Gleichzeitig explodieren die Gehälter von Vorständen. Sie verdienen zum Teil das 300-fache eines Facharbeiters.

Das heißt, diese Entwicklung beinhaltet sozialen Sprengstoff?

Ja, denn die Mittelschicht gerät auch immer stärker unter Druck. Das führt zu nicht unbegründeten Abstiegsängsten. Beschleunigt wird dieser Trend durch die steigende Zahl befristeter Arbeitsplätze. Vor einer Festanstellung stehen oft befristete Arbeitsverhältnisse, Praktika und prekäre Arbeitsbedingungen. Diese Entwicklung wird uns noch vor große Probleme stellen, an erster Stelle steht die Altersarmut. Immerhin ist die Absenkung des Rentenniveaus gestoppt worden.

Ist es nicht ein Fehler, immer nur auf die Entwicklungen in Deutschland zu schauen? Die Welt dreht sich weiter, China wird immer stärker und sicher bald zum Beispiel auch mit Autos den deutschen Markt erobern wollen. Ist es daher nicht wichtiger denn je, auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu achten?

Wilhelm: Natürlich haben wir die Globalisierung und ihre Folgen im Blick. Uns ist auch bewusst, dass wir auf die Wettbewerbsfähigkeit achten müssen. Gemeinsam mit den Beschäftigten streiten wir für faire Rahmenbedingungen, die die Politik schaffen muss.

Trotz – oder wegen – der Globalisierung sind die Gewinne der deutschen Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren explodiert. Wir wollen eine Teilhabe. Mit Blick auf VW sage ich: Die Beschäftigten sorgen dafür, dass das Unternehmen Milliardengewinne einfährt, warum sollen sie nun dafür herhalten, die 28 Milliarden Euro einzusparen, die VW im Zusammenhang mit dem Abgas-Betrug unter anderem für Strafen zahlen musste?

Das Megathema unserer Zeit ist die Digitalisierung. Wie geht die IG Metall damit um?

Räschke: Wir wollen daran arbeiten, dass die Betriebe zukunftsfest werden, um Arbeitsplätze und Standorte zu sichern. Die digitale Transformation in den Betrieben wird nur gelingen, wenn sie von den Beschäftigten gestaltet wird. Vor diesem Hintergrund sind Personalentwicklung sowie Aus- und Weiterbildung wichtiger denn je. Leider stellen wir aber genau das Gegenteil fest: Fortbildungen werden seltener, das gilt auch für die ganz großen Unternehmen.

Weil Weiterbildungen fehlen, kommt es immer häufiger zu Engpässen in vielen Berufen. Das gilt auch für klassische Tätigkeiten wie zum Beispiel den Zerspanungsmechaniker. Für uns ist es wichtig, dass Fachkräfte nicht immer nur von außen geholt, sondern dass eigene Mitarbeiter qualifiziert werden. In den Betrieben gibt es oft die Einstellung, dass Qualifizierung jederzeit eingekauft werden kann. Das gilt in Zeiten des hohen Beschäftigungsniveaus nicht mehr, die Ressource Arbeitskraft wird zunehmend knapp.

Parteien und viele Vereine verlieren Mitglieder. Wie entwickeln sich die Mitgliederzahlen der IG Metall Salzgitter-Peine?

Wir haben seit mehr als zehn Jahren stabil um die 32.000 Mitglieder. Bundesweit steigt die Zahl sogar – im vergangenen Jahr um 8000 auf knapp 2,28 Millionen Mitglieder. Einen Trend der Abkehr können wir für die IG Metall nicht bestätigen.

Was sind die Gründe für diesen Zuspruch?

Räschke: Die Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie im vergangenen Jahr hat uns viele neue Mitglieder gebracht.

Wilhelm: Wir erreichen viele Menschen, sind in den Betrieben präsent, in der Tarifpolitik aktiv und bieten unseren Mitgliedern zahlreichen Möglichkeiten, sich aktiv mit ihren Ideen in die Gewerkschaftsarbeit einzubringen. Wir treten für den Erhalt der Standorte und Arbeitsplätze ein, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sind aber auch sozial- und gesellschaftspolitisch aktiv.

In unserer Geschäftsstelle sind wir stolz darauf, dass sich so viele junge Mitglieder sehr aktiv einbringen. Wir stellen immer wieder fest, dass sie sehr ernsthaft für ihre Belange eintreten und nicht weniger engagiert sind als frühere Generationen. Vorausgesetzt, die jungen Menschen haben die Möglichkeit, sich zu verwirklichen.

In vielen Ländern westlicher Prägung gibt es weltweit einen Rechtsruck, auch in Deutschland. Viele Menschen wenden sich ab von klassischen Organisationen und Eliten. Auch innerhalb der Gewerkschaften sind derartige Tendenzen erkennbar, obwohl nationalistische und fremdenfeindliche Positionen ihren klassischen Werten widersprechen. Wie gehen Sie in Ihrer Geschäftsstelle damit um?

Räschke: Auch bei uns gibt es Mitglieder, die dem rechten Spektrum angehören. Das AfD-Ergebnis in Salzgitter spricht Bände. Sie treten aber kaum in Erscheinung ­– abgesehen von Schmierereien in Toiletten. Trotzdem setzen wir uns mit dem Thema auseinander, und wir haben im Blick, dass zur AfD eine Arbeitnehmer-Organisation gehört.

Wir zeigen Flagge auf Demonstrationen gegen Rechts, und wir wollen die Strategie und das Falschspiel zum Beispiel auch der AfD offenlegen. In den Betrieben zeigen wir tagtäglich, wie Menschen aus unterschiedlichen Nationen friedlich zusammenleben. Das hat in Salzgitter eine lange Tradition. Demokratie ist kein Geschenk, sondern muss jeden Tag neu erstritten werden. Man muss mit den Menschen reden und Perspektiven entwickeln.

Salzgitter ist und war ein begehrtes Ziel für geflüchtete Menschen, vor allem aus Syrien. Welchen Beitrag leistet die IG Metall zur Integration?

Räschke: Wir gehen das Thema sehr praktisch an, unterstützen zum Beispiel während der Ausbildung Sprachkurse im Gewerkschaftshaus an.

In Salzgitter gibt es ein breit anerkanntes und sehr aktives Netzwerk aus Stadtverwaltung, Kirchen, Vereinen, Ehrenamtlichen und Gewerkschaften – wir sind ein Akteur davon. Neben der praktischen Arbeit bringen wir uns in gezielten Aktionen ein. Am internationalen Tag gegen Rassismus am 21. März planen wir zum Beispiel Aktionen für Solidarität und ein friedliches Miteinander während der Arbeitszeit in den Betrieben.

In der Vergangenheit hat sich die IG Metall in Salzgitter stark bei Demonstrationen gegen Rechts eingebracht. Wird das auch künftig so sein, trotz des großen Mobilisierungsaufwands?

Räschke: Wir werden uns Rechtsextremen immer entgegenstellen.

Wir werden nicht zulassen, dass Nazis in unserer Stadt unwidersprochen aufmarschieren. Wir stehen gegen Hetze und Gewalt und für Solidarität und die Achtung der Menschenrechte ein.

Werden Sie auch Ihr Engagement gegen das geplante Atommüllendlager Schacht Konrad fortsetzen?

Wir werden weiter Widerstand leisten, obwohl das durch die große Koalition in Niedersachsen nicht einfacher geworden ist. Schacht Konrad entspricht nicht den neuesten Sicherheitsstandards, außerdem soll das Endlager nicht dafür vorbereitet werden, den Atommüll zurückholen zu können.

In der Salzgitter Flachstahl, der größten Tochter der Salzgitter AG, hat sich innerhalb der Arbeitnehmerschaft eine Opposition zur IG Metall gebildet, die mit einer eigenen Liste angetreten ist. Das hat zu heftigen Konflikten im Betriebsrat und rund um die Betriebsratswahl geführt, mit denen Sie sich zunächst schwer getan haben. Wird die IG Metall umdenken und offener mit internen Konflikten umgehen?

Wir werden uns auch künftig für eine Personenwahl mit allen Kandidatinnen und Kandidaten auf einer gemeinsamen Wahlvorschlagsliste stark machen. Nur dann können die Beschäftigten direkt dem Kandidaten ihre Stimme geben, dem sie am meisten vertrauen. Das ist bei konkurrierenden Listen nicht möglich. Daher werden wir auch künftig für eine Personenwahl bei der Betriebsratswahl werben.

Das bedeutet aber, dass Sie sich mit möglichen Gegenkandidaten auf eine Einheitsliste verständigen müssten. Ist das realistisch?

Räschke: Wir sind immer gesprächsbereit und sprechen mit den Kollegen, um eine Personenwahl zu ermöglichen. Wenn sie trotzdem der Meinung sind, auf einer eigenen Liste zu kandidieren, sehe ich das als vertane Chance.

Nicht der Kandidat sollte über die Besetzung des Betriebsrats bestimmen, sondern die Beschäftigten als Wähler.