Hannover. Niedersachsen wählt nach dem Wechsel einer Abgeordneten zur CDU vorzeitig, Weil bleibt Ministerpräsident.

Es war der 4. August, ein Freitag, als ein politischer Sturm über Niedersachsen hereinbrach.

Während im Landwirtschaftsministerium der Grüne Minister Christian Meyer vor Journalisten über Fipronil in Eiern referierte, liefen im nahen Landtag die letzten Vorbereitungen für einen dramatischen Auftritt. Wenig später verkündete die Landtagsabgeordnete Elke Twesten ihren Wechsel von den Grünen zur CDU-Fraktion. Damit war die Ein-Stimmen-Mehrheit von SPD und Grünen im Landtag dahin. Die Opposition von CDU und FDP hatte nun eine Mehrheit.

Doch Ministerpräsident Stephan Weil, sichtlich angefasst und angeschlagen, fand noch am „schwarzen Freitag“ eine Antwort. Vor der Staatskanzlei, der Regierungszentrale, sprach der SPD-Politiker eine sehr persönliche Kampfansage in die Mikrofone. „Ich stelle mich jederzeit sehr gerne dem Wählerwillen. Aber ich werde einer Intrige nicht weichen“, sagte Weil. Er lieferte damit die Initialzündung für einen emotionalen SPD-Wahlkampf, der ihn am Ende des Jahres wieder in die Staatskanzlei bringen sollte. Diesmal als Ministerpräsident einer Rot-Schwarzen oder auch „Großen“ Koalition.

Wählen sollten die Niedersachsen eigentlich am 14. Januar 2018, fünf Jahre nach der Wahl Anfang 2013. Dass es wieder mal knapp werden würde in Niedersachsen, wo Ministerpräsidenten wie Gerhard Schröder (SPD) und Ernst Albrecht (CDU) regierten, galt als sicher. In Weils rot-grüner Regierung hatten sich zuletzt die Probleme gehäuft. Untersuchungsausschüsse des Landtags beschäftigten sich mit Pannen bei der Islamismus-Bekämpfung und bei Auftragsvergaben des Landes. Vom „Genossenfilz“ war die Rede. Vor allem Stundenausfall und Lehrermangel galten neben der Sicherheitslage als Themen, die bei der Wahl Stimmen hätten kosten können, Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) stand unter Dauerbeschuss. Zuletzt hatte die Regierung sogar den Rücktritt zweier Staatssekretäre zu verkraften, beide wegen schwerer Fehler bei Auftragsvergaben. Von Auflösungserscheinungen einer Regierung war die Rede. Weil selbst galt wegen seiner norddeutsch-bodenständigen Art als größter Trumpf der Koalition, kostenfreie Bildung sollte ein Schwerpunkt des Winter-Wahlkampfs sein, CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann dagegen tat sich schwer mit dem Warmlaufen in Niedersachsen. Den früheren Landeskultusminister und erfahrenen Landtagsabgeordneten hatte es nach dem Machtwechsel 2013 zunächst nach Namibia zur Adenauer-Stiftung verschlagen. Als möglicher Spitzenkandidat galt er immer, doch geschlossen wirkte die CDU selten. Die SPD setzte hinter den Kulissen für 2018 längst auf eine „Ampel“-Koalition mit FDP und Grünen. Umfragen gaben keine Mehrheit mit den Grünen mehr her, sahen aber die CDU weiter klar als stärkste Partei. In einer Groko wäre der Ministerpräsident daher nicht mehr Weil gewesen, sondern der CDU-Spitzenkandidat. Ein Bündnis mit der Linkspartei hatte Weil wie schon vor der Landtagswahl 2013 zwar nicht ausgeschlossen. Man wolle aber die Linkspartei und auch die AfD möglichst gar nicht im Landtag haben, hieß es. Die CDU setzte auf ihren Nimbus als stärkste Partei im Land. So war es auch bei der Wahl 2013 gewesen, doch diesmal wollte die CDU die Regierung führen, statt in der Opposition zu landen.

Doch Twestens Wechsel warf alle Planungen über den Haufen und mobilisierte SPD und Grüne heftig. In Krisenrunden einigten sich die Fraktionen und Parteien auf vorgezogene Neuwahlen. Parallel mit der Bundestagswahl am 24. September zu wählen, erwies sich als zeitlich zu knapp und juristisch riskant. So wurde der 15. Oktober zum Wahltag bestimmt. Ihre neue Macht im Parlament konnten CDU und FDP damit kaum noch auskosten. Statt eine Regierung ohne Mehrheit bis zum Januar vor sich herzutreiben, musste die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Althusmann in einen kurzen Wahlkampf, auf den sie offenbar nicht vorbereitet war. Seine besten Momente hatte Herausforderer Althusmann im „TV-Duell“ mit Weil. Die SPD dagegen schaltete fast über Nacht in den Wahlkampfmodus. Als „Sturmfest und stark“ ließ sich Weil bürgernah vermarkten, stellte sich Bürgerversammlungen und verteilte Rosen in Fußgängerzonen. Auch Vorwürfe, wonach die Regierung sich eine Regierungserklärung habe von VW schreiben lassen, konterte Weil klar. Zum einen waren die Landtagsfraktionen sauber über die Abläufe informiert worden. Zum anderen hatten auch die früheren CDU/FDP-Regierungen aus rechtlichen Gründen Reden eng mit VW abgestimmt. Relevante Änderungen habe es nicht gegeben, ließ Weil wissen – und die Textstellen zeigen.

Dass die so siegesgewisse CDU in einen Abwärtstrend geriet und am Wahlabend mit 33,6 Prozent hinter der SPD landete, dafür hat Althusmann im Rückblick viele Faktoren verantwortlich gemacht: den Streit zwischen CDU und CSU und den schlechten Bundestrend, aber auch den zu kurzen Zeitraum, sich im Land wieder bekannt zu machen, schließlich die mangelnde Wechselstimmung im Land und auch eigene Fehler. Der Fall Twesten sei kommunikativ völlig schief gelaufen, kritisierte Althusmann bei einem kleinen Parteitag der CDU außerdem offen. Weil und den Grünen war es gelungen, die CDU ins Zwielicht der Intrige zu rücken. Verdächtigungen, die CDU habe Twesten mit Karriere-Versprechungen geködert, konnten allerdings nie untermauert werden. Die Kandidatenlisten zum Landtag etwa waren längst geschlossen, Twesten hätte also für die CDU gar nicht mehr antreten können. Vor ihrer neuen Koalition sprachen SPD und CDU offen über die gegenseitigen Anwürfe und Vorwürfe, rückten Dinge gerade und beschworen den Blick nach vorn. Das Verhältnis mit Weil sei nun gut, betonte Althusmann. Für 2018 hat insbesondere CDU-Chef Althusmann die Parole ausgegeben, dass Große Koalitionen große Aufgaben anpacken müssten. Niedersachsen gilt – wie Deutschland insgesamt – als Entwicklungsland bei der Digitalisierung, Lehrer fehlen, neue Autobahnstrecken sollen endlich entstehen. Dass auch ohne die Grünen in der Regierung der Klima- und Umweltschutz ausgebaut werden muss, dürfte SPD und CDU ebenfalls klar sein. Im Koalitionsvertrag setzte die CDU vor allem Akzente in der Sicherheitspolitik: mehr Personal für Polizei und Verfassungsschutz, Fußfessel für Gefährder, deutlich längerer „Unterbindungsgewahrsam“. Die SPD wiederum setzte durch, dass es in der Bildungspolitik keine Wende gibt. Gesamtschulen werden ausdrücklich anerkannt, die Schullaufbahnempfehlung am Ende der Grundschule kommt nur für die, die es wollen. Zwei SPD-Minister aus dem alten rot-grünen Kabinett schafften es auch in die neue Regierung: Boris Pistorius bleibt Innenminister, und Wirtschaftsminister Olaf Lies wechselte ins Umweltressort. Mit den Problemen an den Schulen muss sich nun der frühere parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion, Grant Hendrik Tonne, herumschlagen.

Die CDU verzichtete auf das Innenministerium, übernahm dafür aber das Wirtschaftsministerium mit Althusmann sowie das Finanzministerium. Im Agrarministerium soll nun die frühere Landfrauen-Vorsitzende Barbara Otte-Kinast (CDU) einerseits einen Teil der Meyer‘schen Tierschutzpolitik fortsetzen, andererseits die Bauern von Gängelung und Bürokratie entlasten. Die Region Braunschweig verliert mit dem Ausscheiden des Finanzministers Peter-Jürgen Schneider (SPD) einen versierten Vertreter in der Ministermannschaft. Dafür hat die neue Sozialministerin Carola Reimann (SPD), langjährige Bundestagsabgeordnete für Braunschweig, in ihrem neuen Ministerium in Hannover einen glatten Start hingelegt. Die regionale CDU muss kleine Brötchen backen. Sie holte in der Region keinen einzigen Wahlkreis direkt.

Wie sehr sich die Gewichte im Land nach der Wahl neu sortiert haben, zeigt der neue Landtag. Grüne, FDP und neu auch die AfD stellen dort zusammen 32 Abgeordnete, SPD und CDU haben 105 Sitze.