Braunschweig. Der Staat erhöht den Druck gegenüber radikalen Salafisten. Dennoch hat die Szene unvermindert Zulauf.

Im Januar hängt an der Fensterscheibe ein Plakat mit den Worten des Propheten: „Ihr werdet nicht das Paradies betreten bis ihr glaubt“, so beginnt der Spruch, den der „Deutschsprachige Islamkreis“ in Hildesheim als „Hadith des Monats“ ausgewählt hat. Zwei Monate später sind die Scheiben zerbrochen.

Es ist der 14. März, am Morgen haben rund 370 Polizisten die Räume des Vereins durchsucht. Die Sicherheitsbehörden sind überzeugt, dass die Moschee Treffpunkt radikaler Salafisten ist. Schon lange haben die Behörden die Mitglieder im Visier, mehrfach gab es Razzien, weil im Umfeld des Vereins junge Muslime radikalisiert und gezielt auf ihre Ausreise in die Kriegsgebiete des Islamischen Staats vorbereitet worden sein sollen. Auch der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt, Anis Amri, war dort zu Besuch. Seit Dezember 2015 läuft ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren, an diesem Tag im März setzt die Polizei ein Vereinsverbot durch.

Es ist der bisher größte Schlag gegen die Islamisten-Szene in Niedersachsen, aber auch bundesweit. Landesinnenminister Boris Pistorius (SPD) gibt sich entsprechend euphorisch: „Mit dem Vereinsverbot wurde ein Hotspot der radikalen Salafistenszene in Deutschland zerschlagen.“ Tatsächlich gelingt den Sicherheitsbehörden nach einem Jahr der Pleiten, Pech und Pannen im Fall Amri endlich ein durchschlagender Erfolg.

Vor allem die Ermittler in Nordrhein-Westfalen hatten tiefgreifende Erkenntnisse über das Netzwerk um den Hildesheimer Prediger Abu Walaa gesammelt – auch dank eines V-Mannes des Landeskriminalamtes, der sich in die Szene einschleusen konnte. Außerdem packte ein ehemaliger IS-Sympathisant und Syrien-Rückkehrer aus Gelsenkirchen gegenüber den Ermittlern aus. Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass Ahmad Abdulaziz Abdullah A., genannt Abu Walaa, der führende Kopf der Terrormiliz Islamischer Staat in Deutschland ist. Seit Ende September muss sich der 33-jährige Iraker mit vier Gefolgsleuten vor dem Oberlandesgericht in Celle verantworten. Ihnen wird unter anderem Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen, einigen auch Beihilfe zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat; es gab Pläne für Anschläge in Deutschland. Das Verfahren findet unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen statt; die Angeklagten sitzen hinter einer Scheibe aus Panzerglas.

Es ist ein Mammut-Prozess, der sich bis Ende 2018, wenn nicht sogar bis 2019 hinziehen könnte. 70 Zeugen sind geladen, allein der Kronzeuge Anil O. sagt bereits seit 13 Verhandlungstagen aus, seine Befragung wird im Januar fortgesetzt. Der Prozess verspricht tiefe Einblicke in die Mechanismen der Radikalisierung. Nach dem Szene-Prediger Sven Lau, den das Oberlandesgericht Düsseldorf im Juli wegen Unterstützung der mit dem IS verbundenen Organisation Jamwa zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt, rücken mit Abu Walaa und dessen Anhängern abermals die Verführer und Einflüsterer des Dschihad in den Fokus, die Strippenzieher und Lenker.

Tatsächlich standen bislang vor allem die „kleinen Lichter“ vor Gericht, hauptsächlich junge Männer, die sich von der Reise in den Krieg eine Reise ins Paradies versprachen – wie die Wolfsburger IS-Rückkehrer Ayoub B. und Ebrahim H. B.. Oder fanatische Gläubige wie die 16-jährige Safia S., die im Januar als erste IS-Sympathisantin wegen einer Terrorattacke auf einen Polizisten in Hannover zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wird.

Auch der Prozess gegen den Northeimer IS-Sympathisanten Sascha L. vor dem Landgericht in Braunschweig sorgt in diesem Jahr für Aufsehen: Der 27-Jährige aus Northeim gesteht, dass er mit einem selbstgebauten Sprengsatz Polizisten oder Soldaten töten wollte. Das Gericht verurteilt ihn im Dezember zu drei Jahren und drei Monaten Haft.

Die Flut an solchen „Terror-Prozessen“ führt die Gerichte inzwischen an ihre Grenzen. Medienberichten zufolge hat die Bundesanwaltschaft 2017 mehr als 900 Terrorismus-Verfahren eingeleitet, darunter mehr als 800 mit Bezug zu radikalen Islamisten. Im vorigen Jahr seien es 250 neue Verfahren gewesen. Im Januar richtet Niedersachsen eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Verfolgung terroristisch motivierter Straftaten in Celle ein. Allein bis September laufen dort Verfahren gegen 38 Personen. „Im nächsten Jahr rechnen wir mit weiter steigenden Zahlen“, sagt ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft.

Doch der IS-Terror wird nicht nur die Gerichte und Sicherheitsbehörden, sondern auch die Gesellschaft und Politik noch lange beschäftigen. Obwohl der IS in Syrien und Irak inzwischen als weitgehend geschlagen gilt, sieht die Bundesregierung keinen Grund zur Entwarnung. Der IS sei zwar „in der Fläche besiegt“ worden, stelle aber weiterhin „eine signifikante asymmetrische Gefahr im Land dar“, sagt der stellvertretende Sprecher des Auswärtigen Amts, Rainer Breul, Mitte Dezember. Damit ist gemeint, dass der IS keine Gebiete im Irak mehr kontrolliert, aber seinen Terror weiter über Anschläge verbreiten könnte.

Auch in Deutschland können radikale Salafisten unvermindert für ihre Ideologie werben. Nach dem Schlag gegen das Netzwerk von Abu Walaa und dem erhöhten staatlichen Verfolgungsdruck sehen die Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die Szene zwar als geschwächt. Doch ihr Zulauf ist ungebrochen: Laut Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ist die Zahl der Salafisten mit 10 800 auf ein Allzeithoch angestiegen. Im September waren noch 10 300 Menschen dieser Richtung zugeordnet worden, im Dezember 2016 waren es 9700 gewesen. Der Verfassungsschutz hält den Salafismus, eine besonders konservative Ausprägung des Islam, für den wichtigsten Nährboden des Terrorismus.

Deshalb bleibt auch die „Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft“ in Braunschweig im Visier der Sicherheitsbehörden. Als Prediger tritt dort der international gut vernetzte Muhamed Ciftci auf. Er gilt in der Szene zwar nicht als Hardliner, doch wirbt er bundesweit für eine Ideologie, die als Ziel die Einführung der Scharia sieht, des islamischen Rechts. Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes sind die Grenzen zwischen politischen Salafismus und Terror zuweilen fließend.

Auf große Szene-Treffpunkte sind die Anhänger nicht angewiesen. Sie verbreiten ihre Botschaften vermehrt über das Internet. „Gleichzeitig beobachten wir eine Fragmentierung und Privatisierung des Salafismus in Deutschland“, sagt BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen Anfang Dezember. Die Radikalisierung finde nun weniger in Moscheen oder überregionalen salafistischen Organisationen statt, „sondern in kleinen konspirativen Zirkeln“, berichtet das Bundesamt. Zudem bildeten sich häufiger „Frauennetzwerke“, in die Nachrichtendienste nur erschwert Zugang hätten. Gemeint ist unter anderem das Problem, V-Frauen anzuwerben.

Es sind vor allem Jugendliche mit Brüchen in ihren Biografien, die anfällig für radikale Botschaften sind. Einblicke in das Leben bereits verurteilter IS-Anhänger zeigt, dass häufig Gewalterfahrungen zugrunde liegen, Konflikte in der Familie, spannungsvolle Verhältnisse zu den Eltern oder fehlende Perspektiven. Wer labiler ist, sucht eher nach Bestätigung, nach Halt und Orientierung. In der salafistischen Szene finden sich einfache Antworten auf komplexe Fragen.

Noch mehr Bedeutung wird in den kommenden Jahren daher der Präventionsarbeit an Schulen, in Vereinen, aber auch im Kindergarten zukommen. Radikalisierung soll früh erkannt werden, damit sich rechtzeitig gegensteuern lässt. Mehr als 100 Fälle betreuen die acht Mitarbeiter der niedersachsenweit tätigen Präventionsstelle gegen islamistische Radikalisierung mittlerweile – darunter auch solche, in denen es um Kinder geht. Leiter Christian Hantel sagt unserer Zeitung in einem im März geführten Interview: „Erzieherinnen melden sich zum Beispiel, weil ein kleines Mädchen vollverschleiert in die Einrichtung kommt oder sich weigert, gemeinsam mit anderen zu singen und zu tanzen.“

Der Sozialpädagoge mahnt, die zweite Generation der Salafisten dringend in den Blick zu rücken, also die Kinder derjenigen, die sich bereits radikalisiert haben. „Wir müssen Erzieher und Lehrer dafür sensibilisieren“, sagt er. „Sie müssen eine entsprechende Haltung entwickeln, wenn es um den Umgang mit Auffälligkeiten geht.“