Washington. Donald Trump definiert als US-Präsident seit einem Jahr alle Regeln für das Amt neu – ohne jede Rücksicht.

Die größte Show auf Erden – um den Werbeslogan des legendären US-Zirkusunternehmens Ringling Brothers zu benutzen – beginnt jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang in Washington. Der mächtigste Mann der Welt greift, vielleicht noch

etwas schlaftrunken, zu seinem Handy auf dem Nachttisch. Nur wenige Minuten später verschickt Donald Trump einen Tweet – oder mehrere. Er redet auf diese Art vor Millionen Menschen darüber, was ihn bewegt. Was er im Fernsehen gesehen hat. Wen er nicht ausstehen kann. Und warum wir ihm bestimmte Dinge abnehmen sollen, die er ebenfalls glaubt.

Andere Twitter-Nutzer lesen die Trump-Tweets sofort. Wo auch immer. Gibt es eine intimere politische Kommunikation?

Nach knapp einem Jahr im Amt ist diese Trumpifizierung des Dialogs mit Freund und Feind nur ein Aspekt eines Präsidentenamtes, das wie nie in der Geschichte der USA zuvor neu definiert wird. Die Attacken auf den politischen Gegner im Inland, das FBI oder den „Raketen-Mann“ in Nordkorea, die Beschimpfungen der Medien, seine oft demagogische Sprache, niemand aus der Riege der Bushs, Clintons oder Obamas hat jemals seine Wut, seinen Hass und gelegentlich auch sein Wohlwollen so ungefiltert verbreitet. Zur täglichen Trump-Show gehört dabei auch als unverzichtbarer Bestandteil, dass Fakten keine Rolle spielen und nach Belieben verdreht oder vergessen werden können. Und was zählt schon die öffentliche Meinung? Das begann schon mit der Amtseinführung, als der Gewinner ohne Rücksicht auf die Realität verkünden ließ: Er habe alle Rekorde an Besucherzahlen gebrochen.

Seitdem hat der vor allem vom Familienclan beratene Donald Trump auch an anderen Fronten neue Maßstäbe gesetzt. Die Nato wurde in Frage gestellt, das Pariser Klimaabkommen aufgekündigt. Besondere Rücksicht auf jahrzehntelange bewährte Allianzen mit europäischen Partnern wird nicht mehr genommen. „America first“ heißt die Devise, die sich als einer der wenigen roten Fäden durch das oft unberechenbare Spektakel im Weißen Haus zieht.

Nichts ist mehr sicher oder unumkehrbar unter dem früheren Reality-TV-Star – außer vielleicht das Bemühen, die ohnehin schon massive politische Polarisierung in den USA bis in den letzten Winkel der Gesellschaft vorzutreiben. Football-Spieler, die aus Protest gegen Polizeigewalt gegenüber Minderheiten im Land die Nationalhymne mit einem Kniefall begleiten – das sind, so sagt es Trump, „Hurensöhne“. Er weiß, dass er damit das Feuer im rechten Lager schürt und der nationalkonservativen Klientel aus dem Herzen spricht. Und er weiß auch: Er, Trump, bleibt im Gespräch und dominiert die Tagesordnung. Koste es, was es wolle.

Seine Hardcore-Fans, allen voran die Kommentatoren des Senders Fox News, scheinen keine Probleme mit der Implosion jeglicher moralischer Maßstäbe innerhalb der Führung der Weltmacht zu haben. Dass der Senatskandidat Roy Moore in Alabama kürzlich glaubhaft des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt wurde – Trump sah in Moore nur eine Stimme, der er auf dem Kapitol brauchen würde. Einreiseverbote für Muslime? Ein Stopp der Greencard-Lotterie? Alles kein Problem. Der wichtigste Parameter lautet: Hauptsache, es geschieht etwas im verkrusteten Establishment der Hauptstadt. Die Aktionen des Präsidenten sind dabei so schwerwiegend, dass sie weitreichende Konsequenzen haben werden. Die Klimapolitik wäre ein Beispiel. Das Verhältnis zu Nordkorea, dessen Diktator Donald Trump ungeniert als „klein und fett“ bezeichnet hat, ist so gespannt, dass ein kleiner Zündfunke den asiatisch-pazifischen Raum in einen maximalen Konflikt stürzen kann. Kündigt Trump in 2018 auch den umstrittenen „Deal“ seines Vorgängers mit dem Iran auf, wird Teheran die Suche nach einer atomaren Bewaffnung in hohem Tempo fortsetzen. Das sind nur zwei Beispiele einer Außen- und Sicherheitspolitik im Rambo-Stil, die auch die Berechenbarkeit der USA in Frage gestellt hat. Von überparteilicher Zustimmung will Trump, der der Opposition und US-Justiz wegen der laufenden Russland-Ermittlungen eine „Hexenjagd“ vorwirft, ohnehin nichts wissen. Und ihn stört auch nicht, dass die jüngste Bestätigung Jerusalems als Hauptstadt Israels jahrzehntelang bewährte Diplomatie der USA unterminierte. Dies war eine weitere bewusste Provokation des Präsidenten, dessen Übergang vom Privatier zum Politiker einem konstanten Drahtseilakt ähnelt – in der größten Show auf Erden.