Rio de Janeiro. Ein Streifzug durch Rio de Janeiro, wo heute die Sommerspiele eröffnet werden.

Der Sturm, den das Tiefdruckgebiet von den Falklandinseln über den Strand von Ipanema pfeifen lässt, wühlt den Atlantischen Ozean auf. Meterhoch brechen sich die Wellen am Arpoador, einem Aussichtsfelsen, der die Strände von Ipanema und Copacabana trennt und seinen Namen bekam, weil von ihm aus im 19. Jahrhundert die Harpuniere nach Walen Ausschau hielten. Wer dort sitzt und den Blick über Rio de Janeiro schweifen lässt, der kann verstehen, warum die Stadt, in der an diesem Freitag die Olympischen Sommerspiele eröffnet werden, zum Sehnsuchtsort für viele Millionen Menschen geworden ist.

Aber auch hier, an einem der schönsten Aussichtspunkte der 6,4-Millionen-Einwohner-Metropole Brasiliens, von dem aus die weltberühmten Hügel des Corcovado mit der Statue Christi des Erlösers und des Zuckerhuts zu bestaunen sind, wird deutlich, dass Rio eine Stadt der Gegensätze ist, wie sie krasser kaum sein könnten. In einer windgeschützten Nische sitzt ein in Lumpen gehüllter Mann, der geklaute Elektrokabel verbrennt, um an das Kupfer zu gelangen, das er für ein paar Reais (ein Euro sind aktuell 3,50 Reais) beim Schrotthändler loswerden kann. Es ist ein Bild, wie man es selbst im feinen Rio an jeder Ecke beobachten kann, weil bittere Armut und glitzernder Reichtum sich ohne Berührungsängste zu vermischen scheinen.

Über die Probleme, mit denen Rio zu kämpfen hat, ist in den vergangenen Wochen viel berichtet worden. Manches, wie das Zika-Virus, das bei Schwangeren zu Missbildungen der ungeborenen Kinder führen kann, ist aufgebauscht worden; die das Virus übertragenden Mücken sind im Winter, der in Rio verhältnismäßig trocken und kalt ist – nachts bis 15, tagsüber bis 30 Grad – kaum noch aktiv. Auch die Wasserqualität, viele Wochen lang Ausgangspunkt hitziger Diskussionen, hat sich verbessert. Einzig die Bucht von Guanabara, in der die Segler um Medaillen kämpfen, stellt mit ihrer von Abwässern durchzogenen Brühe eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit dar.

Anderes, wie die grassierende Kriminalität, ist offensichtlich. 59 erschossene Polizisten in den ersten sechs Monaten des Jahres sind ein trauriger Höchstwert, auch wenn die Mordrate mit 1202 Gesamtfällen in 2015 einen historischen Tiefstand in 25 Jahren ihrer Erfassung erreicht hatte. Raubüberfälle, bei denen Messer und Schusswaffen aus nichtigem Anlass eingesetzt werden, sind Normalität. An Statuen fehlen die Messingschilder, und selbst Videokameras, mit denen Wohnhäuser oder öffentliche Einrichtungen überwacht werden, müssen gesichert werden, weil es für sie einen Zweitmarkt gibt. 47 000 Polizisten und 38 000 Soldaten sollen die ersten Sommerspiele in Südamerika vor Terrorattacken und Gewalttaten bewahren.

Wie eine solche Stadt das weltgrößte Sportereignis ausrichten soll, ohne neue Konflikte zu schüren, darüber wurde gerätselt, seit vor sieben Jahren das Internationale Olympische Komitee (IOC) entschied, die Spiele 2016 nach Rio zu vergeben. Damals allerdings war Brasilien ein völlig anderes Land. Präsident Luiz Ignacio Lula da Silva, den alle nur Lula nannten, hatte den mit 8,5 Millionen Quadratkilometern und 200 Millionen Einwohnern flächen- und bevölkerungsmäßig fünftgrößten Staat der Welt vom Schwellen- zu einem Wirtschaftswunderland gemacht, das an die Spitze strebte. Die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele zwei Jahre später sollten wie eine doppelte Krönungsmesse wirken.

Geblieben von diesem Traum ist ein Trümmerhaufen. Lula, im Volk extrem beliebt, durfte 2010 verfassungsgemäß nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren. Seine Nachfolgerin Dilma Rousseff verhedderte sich im Netz der Korruption, das Brasilien schon immer überspannte, nun aber so engmaschig geworden ist, dass große Teile der politischen Elite im Gefängnis sitzen. Rousseff ist wegen eines Amtsenthebungsverfahrens für sechs Monate suspendiert, ihr kommissarischer Nachfolger Michel Temer wird am Freitag im altehrwürdigen Maracana-Stadion die traditionellen Eröffnungsworte des Gastgebers sprechen. Viele erwarten, dass ihn ein Pfeifkonzert begleitet.

Wer verstehen will, woher die Wut kommt, mit der die eigentlich genügsamen und lebensbejahenden Cariocas, wie die Einwohner Rios genannt werden, auf ihre politische Führung reagieren, der muss mit Walter Volkmann durch die Stadt spazieren. Der 76-Jährige kam durch seinen Beruf als Kaffeekaufmann 1982 in die Stadt – und ist nie wieder von ihr losgekommen. Seit 16 Jahren arbeitet der gebürtige Wilhelmshavener als freiberuflicher Reiseleiter in Südamerika, und er kann in Rio zu jedem Gebäude eine Geschichte erzählen.

„Ich glaube, dass Rio von den Spielen profitieren wird“, sagt er, „denn die Infrastruktur wird verbessert mit Mitteln, die ohne Olympia nicht zur Verfügung gestanden hätten.“ Es ist die Argumentation, mit der auch die Befürworter der gescheiterten Hamburger Bewerbung für die Spiele 2024 die Kritiker zu widerlegen versuchten, die anmahnten, die vielen Milliarden besser in Bildung und soziale Einrichtungen zu investieren: Dass man ohne die Spiele die Bundesmittel gar nicht bekommen hätte.

In Brasilien ist das nicht anders. Der Bundesstaat Rio de Janeiro, mit 44 000 Quadratkilometern zwar ein Zwergstaat in Brasilien, aber immerhin größer als Baden-Württemberg, ist pleite und musste, um die Finanzierung der rund elf Milliarden Euro teuren Spiele zu sichern, die Bundesregierung in Brasilia, das Rio 1960 als Hauptstadt ablöste, um fast eine Milliarde Euro Hilfen bitten. Dass ein solches Geschäftsgebahren die Menschen misstrauisch macht, versteht Volkmann.

Er lebt in Leblon, wo Apartments in Strandlage so teuer sind wie in den besten Wohngegenden in London oder Paris. Dort leisten sich viele Menschen Dienstmädchen, Fahrer und einen Koch, weil Personal einen Tageslohn erhält, den die Mittelschicht in einer Stunde verdient. Die Wohnanlagen sind durch Metallzäune geschützt und werden von Wachleuten rund um die Uhr beäugt.

Leblon zählt zur reichen Südzone der Stadt – und damit zu den zehn Prozent von Rio, die von den Spielen profitieren werden, weil dorthin das Geld fließt, um die Infrastruktur zu modernisieren. Der Norden jedoch, wo sich die als Favelas weltbekannt gewordenen Elendsviertel aneinanderreihen, von denen es knapp 1000 in Rio gibt, ist abgeschnitten vom Segen Olympias, und das ist es, was die Bürger stört. Padre Marcelo, der als Priester in der Kirche Santa Rita in Rios Altstadt predigt, ist einer von ihnen. „Die Effekte, die Olympia bringt, wirken sich nur auf die Mittelschicht aus“, sagt er, „die große Unterschicht hat nichts davon. Rio hat so viele Probleme. Krankenhäuser funktionieren nicht, Lehrer und Polizisten bekommen kein Gehalt. Es ist eine Epoche der Probleme, in die so ein Projekt wie die Spiele nicht hineinpasst.“

In den vergangenen Tagen ist ein Stimmungsumschwung zu spüren. Der olympische Boulevard in Copacabana vibriert, am Praca Mauà im aufgehübschten Stadtzentrum, wo der Schriftzug „Cidade Olimpica“ auf die Spiele hinweist, lassen sich viele Einheimische fotografieren. Die Strand- und Straßenhändler hoffen auf gute Geschäfte.

Alle, mit denen man über die 16 kommenden Wettkampftage spricht, sind überzeugt davon, dass die Brasilianer diese Zeit nutzen werden, um zu feiern und zu genießen. „Das ist unsere Mentalität. Erst schimpfen alle, aber wenn es dann losgeht, sind die meisten doch Feuer und Flamme“, sagt Padre Marcelo, der olympiakritische Priester. Was wirklich bleibt von den Spielen in Rio, wird man deshalb erst absehen können, wenn der Sturm sich gelegt hat.