Braunschweig. Richard Kiessler, außenpolitischer Korrespondent unserer Zeitung, zur Entwicklung in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens

In der arabischen Welt ist eine neue Ära angebrochen. Kein Land bleibt vom Aufruhr, der im Frühjahr 2011 mit der Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi begann, verschont. Niemand hat diesen „arabischen Frühling“ mit all seinen Facetten eines politischen Gärungsprozesses vorausgesehen. Die orientalische Despotie ist ins Wanken geraten, Diktatoren wurden verjagt oder stehen vor dem Fall. Wohin die höchst unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens führen, lässt sich ebenso wenig prophezeien wie ein Ende der zum Teil gewaltsamen gesellschaftlichen Konflikte.

Allerdings müssen wir uns von der Illusion verabschieden, die „Arabellion“ werde – wie vor zwei Jahrzehnten in Osteuropa – Demokratien westlichen Musters hervorbringen. Dieser Wunschtraum wird unerfüllt bleiben. Denn der Islam als Religion und Kultur strebt offensichtlich nach Gleichberechtigung. Er will nicht länger ein Objekt westlicher Belehrungen sein. Und weil die meisten Menschen in der arabischen Welt religiös konservativ sind, vertrauen sie in ihrer Mehrheit den Islamisten, die nun den Realitätstest im Umgang mit der politischen Macht bestehen müssen. Dass der Gottesstaat des eifernden iranischen Mullahs für die arabischen Muslimbrüder als Vorbild gereichen könnte, muss indessen nicht befürchtet werden.

Das „arabische Erwachen“ beeinflusst alle Proteste und Rebellionen in den einzelnen Staaten. Aber jedes Land sucht seinen eigenen Weg. In Ägypten trachtet der neue Staatschef Mohammed Mursi, die Macht des noch immer dominierenden Militärs zu brechen. Das ethnisch und religiös zerklüftete Syrien des Gewaltherrschers Baschar al-Assad taumelt immer weiter in den Bürgerkrieg. In Libyens Stammesgesellschaft drängen nach den ersten freien Wahlen liberale Kräfte an die Regierung. Der vom Krieg nachhaltig versehrte Irak bleibt ohne inneren Zusammenhalt gespalten und zerstritten. Tunesien sucht mit einer islamistisch durchsetzten Regierung den Übergang in die Normalität.

Die Monarchien in Saudi Arabien, Marokko, Jordanien und den Golfstaaten erscheinen – mit der Ausnahme Bahrains – gefestigter als die erschütterten Autokratien in ihrer Nachbarschaft. Doch die gekrönten Häupter bleiben gefährdet, allen kosmetischen Korrekturen oder dem Einsatz ihrer Scheckbücher zum Trotz.

Einen Herd steter Unruhe bietet der Jemen, der ärmste und gefährdetste arabische Staat. Dessen gestürzter Dauerherrscher Ali Abdullah Salih erfreut sich im Exil der Immunität. Seine Sippe mischt freilich weiter mit. Den Machtkampf im von der Sezession des Südens bedrohten Jemen nutzte das globale Terrornetzwerk Al Kaida, das gemeinsam mit Dschihadisten ganze Landesteile unter seine Kontrolle gebracht hat. Dieser an der Südspitze der arabischen Halbinsel gelegene und deshalb strategisch wichtige gescheiterte Staat ist alles andere als ein Symbol für das „arabische Erwachen“.