Norddeutsches Tanztreffen in Braunschweig beendet

Tanzfestival Movimentos in Wolfsburg, Norddeutsches Tanztreffen in Braunschweig – die Freunde des Tanzes mussten sich zerteilen in dieser Woche, und viele hatten auch noch Feiertagsferien. So ganz toll getimt war das nicht, kann man auch über die Großzügigkeit Bremens, ihren vom Bund geförderten Tanzplan auf die norddeutschen Nachbarn auszudehnen, froh sein.

Ein Schwerpunkt lag auf der Tanzvermittlung – praktisch für Lehrer und Jugendliche. Aber auch theoretisch unter anderem durch einen Workshop für angehende Tanzkritiker. Leiterin Gabriele Wittmann hat einige sorgfältig redigierte Rezensionen ausgewählt:

Leiden ohne Brüche
Carlos Matos versäumt, vor dem Abschied in Hildesheim noch einmal zu begeistern Von Nathalie Nad-Abonji Schon zu Beginn der nächsten Spielzeit werden die acht Tänzer, die sich heute Abend verbeugen, nicht mehr in dieser Konstellation gemeinsam auf der Bühne stehen. Auf dem Papier nennt sich das „Fusion“ zwischen dem Stadttheater Hildesheim und der Landesbühne Niedersachsen. Doch faktisch wird die Hildesheimer Tanzkompanie wegrationalisiert.
Nur ein gestrichenes Tanzensemble, so scheint es derzeit in Deutschland, ist ein gutes Tanzensemble. Vielleicht sind die Tänzer gerade deshalb überwältigt nach dem großen Publikumsbeifall am Ende des Tanzstückes „Kassandra ruft“ von Choreograph Carlos Matos.
Als Motiv für seinen letzten Tanzabend hat sich der scheidende Ballettdirektor die Geschichte der antiken Frauenfigur Kassandra ausgesucht, die er jedoch anhand der Vorlage von Christa Wolf leider nicht mehr als nacherzählt.
Der Vorhang ist noch geschlossen, als in der Dunkelheit einzelne, hohe Töne hörbar werden. Nur schemenhaft zu erkennen, tritt aus dem Publikum eine Tänzerin heraus und steht bald – mit dem Rücken zum Publikum – zuvorderst auf der Mitte der Bühne. Kassandra (Wencke Kriemer) blickt hinein – und beginnt langsam, ihren entzückenden Rücken zu bewegen, an dem jede Muskelfaser sichtbar ist.
Ein Solo, das nach möglichen und unmöglichen Arm- und Rückenverbiegungen sucht und diese auch findet. Kassandra zieht mit diesem minimalistischen Tanz in ihren Bann, während sie langsam in den Lichtstreifen hineingeht.
Durch den vom Tonband eingespielten Text wird nur allzu schnell klar, dass hier die Geschichte der Seherin Kassandra retrospektiv vertanzt wird. Sie tritt aus der Dunkelheit zurück in ihr Leben – oder ihre Erinnerung daran. Überall stehen mit schwarzem und weißem Stoff bespannte Stellwände, die sich seitlich verschieben lassen und damit immer wieder neue Räume schaffen. Dadurch jedoch wirkt die Bühne oft eng und überladen.
Vorne rechts hängt eine Schaukel, auf der ein bläulich schimmernder Eisblock steht. Am Ende des Stückes wird klar, dass es sich dabei um das von Kassandra vorhergesagte Trojanische Pferd handelt. Es hängt den ganzen Abend wie ein Damoklesschwert über der Bühne.
Als Kassandra ihre Welt betritt, steht da nur ein einziger weinrot gekleideter Mann. Sie beginnen mit flüssigen, weichen und runden Bewegungen ein Duett zu tanzen. Carlos Matos’ Bewegungsvokabular ist gut geerdet, geschmeidig und schön anzusehen. Leider wiederholt es sich zu oft und mangelt an Ecken und Kanten.
Hinter den sich rollenden Stellwänden werden nach und nach in braune Hosen und Blazer gekleidete Tänzer und Tänzerinnen sichtbar. Es ergeben sich Begegnungen zwischen Kassandra und dem Volk. Mal tanzt sie ein kurzes Duett mit dem einen, mal eine Sequenz unisono mit einigen anderen, begleitet von Klangteppichen, die im Laufe des Abends eine etwas verworrene Musikcollage bilden, zeitweilig unterbrochen von Arvo Pärt und Gitarrenrock.
Männer, Gitarrenrock und rotes Licht bedeuten für den Choreographen Krieg, Blut und Leid. Die Geschichte der Kassandra wird linear und einfach erzählt, ohne Brüche, ohne Kontrapunkte aufzuzeigen. Frauensolidarität findet dafür vor orangefarbenem Hintergrund auf einer grünen Wiese statt.
Manchmal geht diese einfache Struktur auf und kann durchaus subtil wirken. Beispielsweise dann, wenn die Textpassage vom provisorischen Leben im Krieg erzählt, die nur eines am Leben lässt: Die Hoffnung auf das Ende.
Während Kassandra langsam rückwärts schreitend von der Dunkelheit verschluckt wird, raffen zwei Frauen die am Boden liegenden Stoffbahnen zusammen. So als würden ihre Lebensbahnen durch den Krieg immer beschränkter und verengter. Bis davon nur mehr ein weißer Stoffballen übrig bleibt, den sie aufheben, um dann abzugehen. Doch insgesamt schafft Carlos Matos es nur selten, die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer zu bündeln. Dazu ist die Abfolge der Szenen zu gleichförmig und vorhersehbar. Schade, man hätte ihm nach fünf Jahren als Ballettdirektor von Hildesheim einen geglückteren Abschied gewünscht.

Sehenswertes Tanztheater mit etlichen Schwächen
Viel Beifall für das Gastspiel aus Hildesheim beim Tanztreffen in Braunschweig Von Markus Hiereth Ölfelder brennen, das Eis der Gletscher schmilzt. Nachrichten schwirren um den Globus. Sie treffen auf taube Ohren. „Jeder könnte...“, heißt es. Aber auch: „Sollen doch die andern etwas tun.“ Der Untergang ist sichtbar, dennoch gehen Menschen gerade darauf zu.
Die drohende Katastrophe behandelt der Mythos um Trojas Königstochter Kassandra, die warnte, das Pferd mit den versteckten Gegnern in die Stadt zu ziehen. Überzeugt ist Carlos Matos, Ballettleiter am Stadttheater Hildesheim, dass der antike Stoff auch uns Heutige betrifft. Mit Passagen aus Christa Wolfs „Kassandra“ unterlegt er seine neue Choreographie, die beim 4. Norddeutschen Tanztreffen in Braunschweig vom Publikum viel Beifall bekommen hat.
Annett Hungers Bühnenbild verweist unaufdringlich auf die Vorlage – das Buch. Wie dieses Seite um Seite Geschichte preisgibt, fallen hier geräuschlos Stoffbahnen, spanische Wände geben nach und nach Orte des Geschehens frei. Zu Beginn steht Wencke Kriemer als Kassandra in einer Gasse mit blendendem Gegenlicht. Als griechische Kriegsbeute hat sie ihren letzten Weg vor sich. Bis unter die Decke zieht sich ein schwarzer Vorhang. Wie ein Beil geht er hoch, dem die fragile Tänzerin ihren Nacken bietet. Sie presst hinter ihrem Rücken Schulterblätter und Armgelenke zusammen, als wäre sie gefesselt.
Tanz und aus dem Off gelesener Text begleitet ein akustischer Strom. Im Eröffnungsbild ist es ein kaltes Piepen, das an Echolot oder Intensivstation denken lässt. Aber auch meditative kirchliche Musik von Arvo Pärt erklingt. Zum Finale kriegerischer Schlachterei wütet dann Heavy Metal von Apocalyptica. Matos bahnt in seiner Choreographie „Kassandra ruft“ den neun Tänzern einen klar erkennbaren, schlüssigen Weg durch Wolfs im Rückblick kompliziert erzählte Geschichte.
Er reiht Erinnerungsbilder aneinander: von der Jugend bis zur Eroberung Trojas durch die Griechen. Kassandras Utopie von einem selbstbestimmten freien Leben der Frauen übersetzt er in ein liebliches Trio mit ihren Freundinnen.
Doch stört auch Überforderung der Tänzer den guten Gesamteindruck. Das von unerbittlichen Trommeln angeheizte soldatische Exerzieren packt noch: Mit einem Tritt in die Kniebeuge und Nachdrücken bringen sich die Tänzer zu Fall. Horizontal schiebt sich die Truppe zwischen linkem und rechtem Bühnenrand hin und her. Das Sextett suggeriert das Arbeiten eines gefräßigen Sägeblattes.
Aber die Illustration vom trojanischen Untergangskampf und das Solo von Hektors Sterben missglücken. Dem Heldentod zwischen den sich schließenden Wänden fehlt Schärfe. Wie ein vom Üben knüppelharter menschlicher Kampfkörper wirkt das Herrensextett nicht. Es wird sichtbar, dass Tänzer sich einfach abschinden. Ein wirklich explosives Hochspringen ist nach unentwegten heftigen Stürzen nicht mehr drin.
Auch ohne diese Szenen wäre Carlos Matos’ Sicht auf „Gemeinschaft und Individuum versus Destruktion“ eindeutig transportiert. Festzuhalten ist auch: Der permanent über der Bühne hängende, schmelzende Eisblock assoziert recht bemüht das Trojanische Pferd. Trotz der erwähnten Schwachstellen ist „Kassandra ruft“ sehenswertes, die sperrige Erzählung Christa Wolfs transparent machendes Tanztheater.

Dem Bilderrausch erlegen
Carlos Matos scheitert mit seiner Kassandra beim Tanztreffen Von Jennifer J. Ramsperger Sanft gleitet eine Frau ins Licht des dunklen Bühnenraumes. Sie steht mit ihrem muskulösen Rücken zum Publikum, der sich erst zart und dann merklich beunruhigt darauf versteht, dem Raum zu lauschen und dessen Bewegungen zu absorbieren. Schulterblatt und Oberkörper suchen einander, streben isoliert nach Punkten im Raum, nach Flecken zum Festhalten. Leider aber sind diese ersten Minuten die einzigen so überzeugenden der Hauptakteurin an diesem Abend.
Sie ist Kassandra und tanzt das Schicksal der trojanischen Königstochter, das Carlos Matos vom Stadttheater Hildesheim beim 4. Norddeutschen Tanztreffen im Kleinen Haus in Braunschweig zeigte. Kassandras Warnungen vor dem Untergang des Königreiches wird keine Beachtung geschenkt, und vielleicht lässt der Choreograph die Solistin Wencke Kriemer deshalb immer wieder neue Soli tanzen, die uns nicht jedesmal Neues erzählen, sondern vielmehr wiederholend Klage und Leid verdeutlichen. Das Lichtfeld, vor dem Kassandra mit ihrem bloßen Rücken steht, öffnet sich. Neue Begrenzungen werden sichtbar, Flächen, Raumteiler, dominiert von einem in der rechten Ecke schwebenden, blau angestrahlten Eisblock. Drohend ruht er in der Luft, aus dem beweglichen Bühnengeschehen ausgegrenzt.
Flexible Wände und Flächen öffnen und verschließen sich, geben Sicht auf neue Räume und bewegte Körper frei. Mal gleiten sie im Hintergrund am Boden entlang, mal stoßen sie spiralenhaft nach vorne in eine freie, heller werdende Fläche. Duette und Gruppenszenen wechseln sich ab. Matos hat für sie eine homogene Bewegungssprache entwickelt und verwebt sie mit vom Band gesprochenen Textpassagen.
Wir lauschen einer beruhigenden Stimme (Stephanie Petrowitz), die vom Band Ausschnitte aus Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ liest – den inneren Monolog einer Frau, deren Rufe im Nichts verhallen. Mittendrin immer wieder die tanzende Heldin, die sich windet und grämt.
Sie ist Teil eines Geschehens, dessen Bewegungen und Entwicklungen sie nicht bestimmen darf. In ihrer Erinnerung trifft sie auf Hektor, traumhaft gleiten sie ineinander. Im nächsten Augenblick begegnet sie ihren verbündeten Frauen, die sich nach gemeinsamen und etwas beliebig wirkendem Agieren auch ebenso schnell und flink wieder entziehen. Trommeln. Das Tor geht auf. Der Krieg beginnt auf dem Spielfeld einer blutroten Kletterwand. Schon wieder erweitert Matos die Perspektiven seiner Zuschauer, den betanzbaren Raum, indem er die Krieger mal flach an die Wand gepresst, mal seitlich, mal kopfüber in der Vertikalen krabbeln und taktieren lässt. Rot wird röter, kurz wird kürzer, die Männer in ihren kleinen fleischfarbenen Höschen und Leibchen beginnen den Kriegstanz. Die Sinnlichkeit und Eleganz des bisher dahin fließenden und in sich verwobenen Stückes geht verloren. Der Kampf ist nicht kämpferisch, nicht brutal und martialisch genug, um neben dem Geplärr der Heavy-Metal-Musik zu bestehen. Der Versuch misslingt, Eleganz und Aggression zu verbinden. Diese Szenen fallen plump aus – in einer Choreographie, deren Elemente durchaus gelungen verküpft sind.
Hauptsächlich die schönen Bilder lassen die Inszenierung von Matos so stark und überzeugend wirken. Darin kann Kassandra sich auch weiterhin winden und grämen, sich gegen ihren kurz bevorstehenden Tod auflehnen.
Doch was will der Choreograph mit der Zeichnung seiner Hauptfigur und den manchmal zu stereotypen Rollen von Mann und Frau sagen? Der Eisblock schwebt hinab, zerfällt, rutscht wie die schwindende Hoffnung, verführerisch schön, in tausend Stücken über den Boden. Doch wofür so viel Schönheit, wo es doch um Krieg gehen sollte? Am Ende ist der Kampf verloren, und mit Kassandra ist auch der Choreograph seinem Bilderrausch erlegen.

Klappende Kletterwände
Carlos Matos überzeugt mit seinem Gastspiel aus Hildesheim Von Januschka Lenk „Hier ende ich!“ – mit diesen Worten beginnt das Tanzstück „Kassandra ruft“ des Choreographen Carlos Matos, der anlässlich des 4. Norddeutschen Tanztreffens seine neue Produktion vom Stadttheater Hildesheim dem Braunschweiger Publikum präsentierte.
Der Bühnenvorhang steht nur einen Spalt breit auf, aus dem Innenraum strahlt blendend weißes Licht. Zwei Schritte vor dem Durchlass steht, von Leid geprüft, Kassandra. Zwei Schritte nur, die die Königstochter vom Jenseits trennen. Denn für ihre Vorsehung muss sie sterben: Sie hatte die Griechen vor dem trojanischen Krieg gewarnt, doch keiner glaubte ihr.
Die Schriftstellerin Christa Wolf bearbeitete diesen Stoff in ihrer Erzählung „Kassandra“, und diese inneren Monologe der Hauptfigur lässt Carlos Matos vom Band einsprechen. Sanft erklingt also die Stimme von Stephanie Petrowitz: „Ich mache die Schmerzprobe, ich steche mein Gedächtnis an.“ Auf einer Platte aufgehängt über der rechten Bühnenecke ruht ein Eisblock in blauem Licht. Kassandra, getanzt von Wencke Kriemer, trifft auf ihren geliebten Bruder Hektor. Er nimmt seine Schwester leicht über die Schultern und setzt sie behutsam wieder ab. Zum Klang eines Akkordeons beginnt ein geschmeidiger Tanz: Arme und Hände fassen und umschlingen zärtlich Kopf, Schultern, Rumpf der Geschwisterhälfte, die Körper winden sich umeinander, lösen schnelle Drehungen um die eigene Achse aus. Innehalten, zärtliche Blicke. Ihre Hände fassen sich. Sie bleibt zurück.
Die Tänzer werfen sich ganz in ihre Rollen und überzeugen mit ihrer tänzerischen und emotionalen Qualität. Auch der Umgang mit dem Raum ist eine Stärke von Carlos Matos. Durch den gezielten Einsatz beweglicher Bühnenteile gelingt es ihm, Kassandras Schicksal in zehn Szenen zu erzählen: Bis in die Tiefe des Raumes gesetzte Schiebewände zeigen den Königsplast als einen verwinkelten Ort der Macht.
Eine blutrote Kletterwand, an der die Soldaten – Ameisen gleich – emporkriechen, klappt auf den Boden. Und verwandelt sich in eine grüne Wiese, auf die sich die trojanischen Frauen zurückziehen. Dann wieder schieben sich Wände von den Seiten zusammen, senken sich von oben herab und bedrängen den vergebens kämpfenden Hektor. Am Schluss trauert Kassandra um sich und die Toten – in einer engen Höhle, durch schwarze Wände verdichtet. Auf wenige Bilder konzentriert Choreograph Carlos Matos die Geschichte. Bilder, die Lust machen, die große Geschichte noch einmal zu lesen.

Nichtssagende Bauklötze
Ballett Vorpommern gastiert mit zwei Choreographien – zumindest eine enttäuscht Von Nathalie Nad-Abonji Woran liegt es, dass sich noch immer so wenig weibliche Tanzschaffende an staatlichen Häusern etabliert haben? Einzig Ralf Dörnen – Ballettdirektor des Balletts Vorpommern – schafft auf dem diesjährigen Norddeutschen Tanztreffen in Braunschweig Raum für Choreographinnen. Gleich zwei junge Frauen hat er eingeladen, mit seiner zwischen Greifswald und Stralsund tourenden Kompanie zu arbeiten. Die eine ist die Italienerin Teresa Ranieri, die andere ist die Australierin Rosalind Crisp.
„Monochromes“ von Teresa Ranieri beginnt ästhetisch vielversprechend. Auf der mit weißem Tanzboden ausgelegten Bühne hockt vorne links ein ganz in weiß gekleideter Mann in meditativer Haltung. Weiter hinten steht ein niedriges, aus Holzklötzen zusammengesetztes Podest. Darauf prangt ein weißes Tüllknäuel. Wie eine sich öffnende Blütenknospe schält sich daraus eine Tänzerin zu sphärischen Klängen.
Sie sonnt sich, von oben beleuchtet, im Rampenlicht, Zuschauer klatschen vom Band, die Diva auf dem Podest lässt sich feiern. Als „heilige Ballerina“ deutet sie Ballettvokabular an. Später, wenn die Holzbausteine schon zig-mal neu im Raum angeordnet sein werden, trägt ein Tänzer die Ballerina hinter eine Mauer aus Holzklötzen oder hebt sie einfach unmotiviert von der Bühne.
Erst zum Schluss des Stückes taucht sie wieder auf, um unter sanft herabfallenden Schneeflocken zwischen in Meditations-Haltung sitzenden Tänzern hindurchzuschreiten. Ganz offensichtlich spielt sie für „Monochromes“ eine Schlüsselrolle – die aber leider so gar nicht verständlich werden will.
Mittlerweile agieren weitere fünf Tänzer, alle in luftigen, weißen Kostümen. Mal ordnen sie Bauklötze, mal positionieren sie sich neu im Raum, um eine sehr undurchsichtige Bewegungssprache auszuführen. Sie folgen mit ihren Zeigefingern imaginären Linien auf dem Boden, knicken in den Hüften ein, um dann einwärts ihre gestreckten Beine und Füße zu heben.
Sie wiederholen Sequenzen und treffen sich dann und wann, für kurze Momente unisono. Schade nur, dass der Raum nicht genutzt wird, die Tanzenden oft am Platz bleiben und sich dann durch simples Gehen einen neuen Ort des Geschehens suchen.
Das sehr junge Ensemble, das sonst ein eher klassisches und neoklassisches Repertoire beherrscht, fühlt sich in dieser nichtssagenden Bewegungssprache sichtlich unwohl. Noch deutlicher wird dies, wenn ihnen keine Schritte mehr zur Verfügung stehen – es erfordert Mut und Überzeugungskraft, sich zuvorderst an die Rampe zu stellen und zum hundertsten Mal wie ein Pseudorocker Luftgitarre zu spielen.
Überhaupt ist das Musikpotpourri eine unglückliche Wahl – es möchte heutig sein, bleibt aber beliebig. Als dann zu guter Letzt von oben Schneeflocken herabfallen, kommt die Sehnsucht auf nach einer Stimme die „it’s snowing“ quäkt - und Improvisationskünstlern, die William Forsythe’s „Loss of Small Detail“ tanzen.

Im Korsett gesellschaftlicher Konvention
Das Bremer Tanztheater präsentierte „Flacon“ von Urs Dietrich Von Markus Hiereth Der Flacon und sein gläserner Stopfen schließen eine Mixtur duftender Essenzen ein. Dem Fläschchen mit Schraubdeckel weint niemand nach. Parfüm verkauft sich seit langem im Vaporisateur, dessen Düse es ohne Hautkontakt verteilt. Vielleicht, weil es so nicht mehr viel zu zelebrieren gibt, vor allem aber angestoßen durch die Impressionismus-Ausstellung „Monet und Camille“ in der Kunsthalle Bremen schuf der Choreograph des dortigen Theaters, Urs Dietrich, „Flacon“. Mit diesem Stück gastierten im Rahmen des Norddeutschen Tanztreffens Dietrich und sein Ensemble im Kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig. Im Publikumsgespräch erklärte Urs Dietrich die nicht endende Serie in Schwarz gekleideter Frauen. Obgleich die Malerei der Epoche in Licht und Farben schwelgt, waren Röcke, Blusen, Korsette und Jacken in Schwarz die modische Konvention. Überhaupt ist das Stück als Darstellung von bürgerlicher Konvention zu sehen. Im Gegensatz zu Models schreiten die Akteure hier nicht auf einem Catwalk vor und zurück. Sie nutzen die Bühne wie einen Streifen Trottoir.
Frauen, Männer, Gruppen und Paare kommen in deutlich sprechender Weise vorbei: Den Anfang macht eine leicht geknickt gehende Frau auf einer Bühne ohne Licht. So wird ein verschleierter Kopf, eine Jacke und ein weites, gerafftes Tüllkleid zur Schablone in Schwarz. Im Vertrauen auf ihre Wirkung dehnt Urs Dietrich mit Wiegeschritten die Distanz vor dieser Frauenfigur.
Zugegeben, an Tempo und Fortkommen berauschte sich jene Zeit noch nicht. Vielmehr vergegenwärtigt der langsame Stückbeginn die versprochene Behandlung von gesellschaftlicher Konvention. Ein Mann folgt und kommt allmählich heran. Es entwickelt sich ein steifes Duo ohne körperlichen Kontakt. Sie greifen beide ins Leere. Aber seine Hände vermitteln etwas wie Schwelgerei. Er zeichnet mit ihnen Kopf, Schultern, Brust, Taille, alles weiblich rund. Er bietet ihr waagerecht die Hand an. Sie beachtet es nicht. Diese und alle weiteren Begegnungen koppelt Choreograph Urs Dietrich mit einem oft unmerklich langsamen Film auf der breiten Leinwand als Hintergrund. Sie zeigt anfangs einen Himmel in ruhigem Blau. Millimeter für Millimeter schiebt sich ein Prachtstück von Baum hinein, Geräusche markieren den Ort als Naturparadies. Daraus vertrieben zu werden, ist ein weiteres Segment in der Aktionspalette.
Unzugänglich ist Urs Dietrichs tanzkulturelle Freibeuterei: Er bedient sich beim spanischen Flamenco und asiatischem Stil von Frauen im schwarzen Witwenflor. Ohne historisch-intellektuelle Verspannung, zum Genuss, bleibt dann nicht viel mehr als der Walzerzauber der Dame in Rot, sowie die erregenden Hüftschrauben von Dietrichs weiblichen Managerfiguren im kurzen schwarzen Cocktailkleid.
Dietrich wickelt hundert Jahre als Faden ab, in Gesten und Bewegungen vermittelt er, was ging und was kam. Ihn beschäftigten dabei im Besonderen das Verhältnis der Geschlechter und die Identität und Freiheit von Frauen. Im vorfinalen Bild frostiger Halme und Ähren hat die Solistin einen Hosenanzug an. Sollen wir jetzt Herrenparfum sprühen und schnüffeln?

Abgezirkelt und poetisch
Urs Dietrich überzeugt mit einem Werk über das Zeitalter des Impressionismus von Carolin Brandl Fliegende Röcke, die sich wie bauschige nachtschwarze Blüten öffnen und schließen. Verschleierte Frauen, die unsichtbare Fäden spinnen und mit flinken Händen den Raum um den weiblichen Körper mit Ornamenten verzieren, um diese dann mit der nächsten würdevollen Geste in den Raum gleiten zu lassen.
Sonniges Licht, das sich in Flecken am Boden spiegelt. Raum, der sich in diffusem Licht verliert. Bilder wie Gemälde schenkte der Choreograph Urs Dietrich den Zuschauern des Staatstheaters Braunschweig anlässlich des 4. Norddeutschen Tanztreffens.
Inspiriert von der impressionistischen Malerei bringt Dietrich seine Themen auf die Bühne. Der Umgang mit dem Licht, der Natur, aber auch Themen wie das Dekorative oder die Darstellung der Mode der mondänen Pariserinnen jener Epoche können in diesem Stück gelesen werden.
Zu Beginn zeigt sich eine Frau noch eingeschnürt im Korsett der Konventionen ihrer Zeit, gesichtslos, unter schwarzem Schleier verborgen. Mit würdevollen Kontrollbewegungen macht sich die weibliche Figur den Raum zu eigen wie eine dunkle Gottesanbeterin. Der Choreograph bringt eine Bildersprache zum Blühen, die fein kodiert ist, die gesellschaftliche Repressionen und Konventionen der Zeit erzählt – und die Bedingungen für die Liebe.
Vor leuchtenden Projektionen, die Männer in dunklem Frack, die Frauen in eindrucksvoller Robe, entspinnen sich Tänze zwischen Mann und Frau. Ein Umkreisen mit abgezirkelter Distanz, die Blicke voneinander abgewandt, lotet der Mann leise und wie ein bedrohlicher Schatten die Möglichkeiten einer Annäherung aus. Dann eine Prozession von Paaren, die den Raum durchqueren im Gleichschritt und wie eine dunkle Decke über den Raum gleiten.
Hier und da löst sich eine Figur und zeichnet mit Oberarmen und Händen Zeichen, formt Kreise oder penetriert mit gespreizten Fingern die Luft. Immer wieder erstehen Bewegungselemente aus dem Flamenco oder Tango mit ihren sexuellen Konnotationen.
Später nimmt das Schnauben eines Stieres den Raum gefangen, als die Männer sich – Toreros gleich – durch den Raum bewegen, während die Röcke der Frauen wie die Tücher der Stiertänzer um die Beine der Männer wehen. Aus Schnauben wird Rattern, und bedrohlich kündigt sich mit der Ankunft eines Zuges die Ankunft der Moderne an. Erlöst sind die Frauen von dem Versteckspiel unter Schleier und Roben, sie zeigen nun in enganliegenden Cocktailkleidern und Highheels ihre Reize und schlagen ihre Hacken.
Das Kreisen der Hüften bestimmt nun die Bewegung von Mann und Frau. Sie bauen sich zu einer Reihe auf, starr den Blick nach vorne, der Zukunft zugewandt. Doch dann am Ende kommt das Solo einer Frau in weißem Anzug, die dann doch Weibliches und Männliches vereint, das Weben und Stricken, die Kreise und stechenden Formen zu einer Einheit verwebt.
Urs Dietrich ist geglückt, womit andere Choreographen auf dem Festival gescheitert sind. Er erzählt Geschichten und eröffnet Imaginationsräume gleich einem Gedicht von Baudelaire. Er schreibt Poesie mit seiner Bewegungssprache und malt – zusammen mit der Lichtregie von Rolf Esser – Bilder mit einfachen szenischen Mitteln. Das Stück „Flacon“, benannt nach dem gleichnamigen Gedicht Baudelaires, wiegt wie ein schwerer Duft, der auch noch nach Verlassen des Theaters die Sinne bewegt.