Der Braunschweiger Ernst-August Roloff spricht über das Jahr, in dem die Bundesrepublik gegründet wurde

1949 Zeitzeugen: Ernst-August Roloff ist emeritierter Politik-Professor und Kenner der braunschweigischen Geschichte. Für unsere Zeitung schrieb er vor Jahren die Serie „Wie braun war Braunschweig?“.


Cornelia Steiner hat mit dem Historiker und Politologen Roloff gesprochen. Seine Erinnerungen schilderte er aus der Sicht des 23-jährigen Studenten, der er damals war.

60 Jahre sind seit der Geburtsstunde der Bundesrepublik vergangen. Der Braunschweiger Politikwissenschaftler Ernst-August Roloff erinnert sich an jene Zeit. Im Interview erzählt er, wie er die Jahre als junger Student erlebt hat.

Herr Roloff, der Krieg lag gerade vier Jahre zurück, als die Bundesrepublik gegründet wurde. Welche Erinnerungen haben Sie an das Kriegsende und die ersten Nachkriegsjahre?

Für uns junge Leute war das Kriegsende schmerzlich. Wir haben unsere Knochen hingehalten für nichts und wieder nichts. Unsere Heimatstadt war ein Trümmerhaufen.

Die ersten Nachkriegsjahre waren beherrscht vom Wegräumen der Trümmer in der Innenstadt mithilfe der Trümmerbahnen, die außer den ersten Straßenbahnen durch die fast menschenleere Ruinenlandschaft fuhren. In den erhaltenen Wohngebieten lebten die Menschen gedrängt in meist mehr oder weniger beschädigten Wohnungen.

Aber es gab auch bald wieder Lokale, von der Eisdiele bis zum Nachtlokal, einige in Kellern oder Bunkern, auch viele Kinos. Die waren nicht groß, aber immer voll.

Welche Rolle spielte die britische Besatzungsmacht?

Die Besatzung ging zunächst gegen unseren Stolz. Uns störten vor allem alltägliche Dinge: Man musste zum Beispiel ausweichen, wenn englische Soldaten auf dem Fußweg kamen, und man musste um zehn Uhr abends zu Hause sein. Im Theater wurde die britische Nationalhymne gespielt, bevor der Vorhang aufging, das Publikum musste aufstehen.

Andererseits garantierten die Engländer unsere wirtschaftliche Existenz. Wenn wir von ihnen keine Zigaretten bekommen hätten, hätten wir auf dem Schwarzmarkt nichts zum Tauschen gehabt. Und der Schwarzmarkt war lebenswichtig. Es gab ja anfangs nicht viel zu essen, man brauchte, wie im Kriege, für alles Lebensmittelmarken.

Wir hatten auch überhaupt keine anständige Kleidung. Ich trug noch meine alten Wehrmachtsklamotten. Aus dem Wehrmachtsmantel hatte ich mir einen Wintermantel machen lassen. Aber dann kam 1948 die Währungsreform, und schlagartig änderte sich alles. Das wirkte sich 1949 so richtig aus.

Wie stark hat die Währungsreform den Alltag verändert?

Sehr stark, denn vieles ging zu Ende: Die Zeit des Hungers, die Zeit, in der es keine Kohlen zum Heizen gab, die Zeit des Schlangestehens und des Schwarzmarktes, die Zeit der Zigarettenwährung.

Die Marken fielen weg. Wenn man Geld hatte, bekam man jetzt alles. Die Läden und Märkte waren gefüllt. Erst mal aß man sich satt, und dann besorgte man sich vernünftige Kleidung. Man trug wieder Zivilmäntel und Hüte und im Sommer einen weißen Schal und einen Staubmantel, um die Kleidung vor Staub zu schützen. Da war ich wieder wer!

Wie entwickelte sich das Verhältnis zu den Briten?

Zwischen der Währungsreform und Gründung der Bundesrepublik verschwanden die Engländer aus dem Straßenbild – und aus den Lokalen. Der Ratskeller wurde wieder ein deutsches Lokal. Wir waren froh, dass die Engländer nicht mehr so viel zu sagen hatten. Wir fühlten uns befreit, und wir haben das Leben genossen!

Auch das Reisen war nach der Währungsreform angenehmer geworden: Man musste im Zug nicht mehr stehen und sich drängeln. Die ungeheure Mobilität der ersten Nachkriegsjahre, wo Flüchtlinge hin und her fuhren und viele Menschen Hamstertouren machten, ließ nach. Die Fahrkarte kostete wieder etwas – vorher war der Preis völlig unerheblich gewesen. Der D-Zug kostete Zuschlag, etwa eine Mark, der Eilzug auch, 50 Pfennige. Das weiß ich noch genau, weil ich im Sommer 1948 ständig zwischen Braunschweig und Göttingen hin und her gefahren bin.

Ich war damals an der Technischen Hochschule in Braunschweig immatrikuliert und hatte mitten im Sommersemester einen Studienplatz in Göttingen bekommen. Das war ein Glücksfall, denn die Uni hatte begrenzte Aufnahmekapazität. Außerdem war ich Hitlerjugendführer gewesen und fiel deshalb unter Zulassungsbeschränkung. Ich hatte auch keine überragenden Zeugnisse. Aber mein Vater war Professor in Braunschweig und hatte Beziehungen zur Uni Göttingen. Sowas hieß damals: Vitamin B.

Haben Sie und andere Studenten sich für Politik interessiert?

1949 fing das demokratische Leben an. Ich fand es klasse, dass wir wählen durften. Mit Freunden hatte ich während meiner Schulzeit am Wilhelmgymnasium auf einer Bodenkammer manchmal "Parlament" gespielt – da durfte man reden und sogar den Reichskanzler kritisieren. Parlamentarismus war für uns Demokratie als Meinungsfreiheit. Die Parteien haben wir Studenten zunächst mit Skepsis gesehen. Auch der Parlamentarische Rat spielte für uns im Alltag keine große Rolle. Wir hatten aus der Erziehung in der Nazizeit noch einen Rest von Anti-Parteien-Komplex. So schön es war, Parlament zu spielen – politisch haben wir denen nicht viel zugetraut.

Welche Stimmung herrschte denn unter den Studenten?

Wir waren auf eine bestimmte Art amerikanisiert: Glenn Miller war das Idol, der Swing beherrschte das Lebensgefühl. Wir haben englische und amerikanische Filme und Theaterstücke gesehen.

Für uns junge Leute, für die Kinder des Braunschweiger Bildungsbürgertums, war es ganz wichtig, dass das Theater ab 1949 wieder im alten Haus war. Bis dahin hatte es in der Turnhalle der jetzt Kant-Hochschule genannten Lehrerbildungsanstalt gespielt. Wir haben Stücke von Thornton Wilder gesehen: "Wir sind noch einmal davongekommen", und haben uns in stundenlangen Diskussionen die Köpfe heißgeredet.

Wir konnten englische und amerikanische Literatur kaufen, und haben uns damit vollgesogen – Hemingway zum Beispiel. Das war für uns wichtiger, als die im Dritten Reich verbotene Literatur zu lesen. Endlich konnten wir neue Bücher kaufen, nicht mehr nur alte im Antiquariat und nicht nur Rowohlt-Rotationsdrucke, sondern fest eingebundene Bücher!

Das alles klingt nach einem gewaltigen Aufbruch, der in der Gründung der Bundesrepublik mündete.

Trotzdem lag ein Schatten darüber, denn mit der Währungsreform begann die Blockade West-Berlins. Die Grenze wurde immer undurchlässiger. Bis 1948 war die sowjetische Besatzungszone für uns selbstverständlich ein Teil von Deutschland gewesen. Aber nun wurde die Kommunikation jäh abgebrochen.

Wir glaubten, die Luftbrücke der Alliierten sei der letzte Versuch, Berlin vor dem "Ivan" zu retten, hatten es aber nicht für möglich gehalten, dass sie es schaffen, die Versorgung von zwei Millionen Menschen aufrecht zu erhalten. Das war das zweite politische Wunder nach der Währungsreform.

Aber die Ambivalenz von damals ist mir noch deutlich in Erinnerung: Einerseits ging es uns materiell immer besser, andererseits war es schrecklich, dass dieses Deutschland hinter Helmstedt zu Ende war.