Interview mit Bettina Gaus über ihren Vater, den Journalisten, Publizisten und Diplomaten Günter Gaus

1976 Zeitzeugen: Bettina Gaus ist politische Korrespondentin bei der „taz“ in Berlin. Die 52-Jährige spricht über ihren Vater Günter Gaus, der in Braunschweig geboren wurde.


Cornelia Steiner hat im Interview mit Bettina Gaus erlebt, wie schwierig es ist, Erinnerungen an einen Verstorbenen wiederzugeben. Die taz-Korrespondentin hat jeden Satz abgewogen, um ihrem Vater gerecht zu werden.

Seine Memoiren konnte Günter Gaus 2004 nicht mehr vollenden, denn der Krebs war schneller. Aber er hat viele Analysen, Beobachtungen und Interviews hinterlassen, die ein Bild von ihm zeichnen, wenn auch ein lückenhaftes. Seine Tochter Bettina Gaus, politische Korrespondentin der "taz", versucht im Interview mit Cornelia Steiner, dieses Bild weiter zu füllen.

Frau Gaus, Ihr Vater ist vielen als scharfer Analytiker in Erinnerung, als beharrlicher Fragesteller, als verschwiegener Diplomat. Wie würden Sie ihn spontan charakterisieren?

Ein ganz starker Wesenszug von ihm war sein Sinn für Humor. Er konnte sehr lustig sein und sehr albern. Aber er hat sich auch leidenschaftlich gerne kontrovers auseinandergesetzt, auch scharf, bis zur Grenze der Aggressivität. Sein ganz besonderes Interesse galt den kleinen Leuten. Er konnte sich sehr gut in ihre Ängste, Sorgen und Stimmungen einfühlen.

Ihr Vater stammte selbst aus einfachen Verhältnissen, die Eltern waren Gemüsehändler in Braunschweig. Was hat ihn denn bewogen, sich für Politik zu interessieren?

Er wurde sehr stark geprägt durch den Krieg und das Entsetzen darüber, was in den Jahren dieses Terrorregimes passiert ist. Außerdem war schon mein Großvater ein sehr politischer Mensch.

Hat das Erleben des Krieges auch die Berufswahl Ihres Vaters beeinflusst?

Ja, natürlich. Ob man damals überhaupt Journalist werde konnte, ohne zugleich politisch zu sein? Ich glaube, wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war es eine Selbstverständlichkeit, politisch zu sein.

20 Jahre lang hat Günter Gaus als Journalist gearbeitet. War er dessen überdrüssig, als er 1973 in den Staatsdienst gewechselt ist?

Journalismus hat ihm viel Spaß gemacht. Er hielt ihn für ein Werkzeug der Aufklärung im Kantschen Sinne. Ihn faszinierte die Möglichkeit, ein Meinungsklima mitzubestimmen. Für meinen Vater war es kein berufsethischer Konflikt, mit kritischem Journalismus parteipolitische Ziele durchzusetzen. Ich halte das für eine Generationsfrage – heute würde er das sicher anders sehen.

Seinen Abschied vom Journalismus hat er später so kommentiert, dass er vom Merker zum Täter geworden ist. Die Jahre als Diplomat waren sicher die schönsten seines Lebens, weil er aktiv mitgestalten konnte, und nicht nur beobachtet und beschrieben hat.

Was war ausschlaggebend für die Entscheidung, Diplomat zu werden?

Willy Brandt hat ihn gefragt, ob er erster Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR werden wollte. Natürlich wollte er! Ihn hat ganz besonders fasziniert, als Erster etwas tun zu können und maßgeblichen Einfluss zu haben.

Er war immer ein glühender Anhänger der Ostpolitik, die von Egon Bahr und Willy Brandt gestaltet wurde. Aber er war selbst überrascht, wie sehr ihn die DDR dann emotional berührte. Die deutsche Frage war nicht sein Lebensthema gewesen, bevor er nach Ostberlin gegangen ist.

Aber sie ist zum Lebensthema geworden. Warum?

Ein Grund dafür war, dass er das Gefühl hatte, an die Orte seiner Kindheit zurückzukommen. In der DDR hatte es ja das Wirtschaftswunder des Westens nicht gegeben. Dort sahen die Dörfer eben wirklich so aus, wie er das aus seiner Kindheit kannte. Das hat ihn sehr angerührt.

Wie sind ihm die Menschen in der DDR entgegengetreten?

Sehr offen und herzlich. Sie haben die Öffnung der Ständigen Vertretung mit großen Hoffnungen begleitet. Und er hat in seiner Arbeit dort unentwegt gesehen, was die deutsche Teilung bedeutete: Da kamen Menschen und weinten, weil sie nicht zu einer Beerdigung in den Westen reisen konnten. Andere riefen aus der Bundesrepublik an, weil der Zwangsumtausch erhöht worden war und sie sich den Besuch bei den Kindern in der DDR nicht leisten konnten. Um solche Probleme ging es bei der Ständigen Vertretung. Es ging um die Hoffnung auf menschliche Erleichterung – und es ist viel erreicht worden.

Ihr Vater hat mehrere Abkommen ausgehandelt, unter anderem zum Bau der Autobahn Hamburg-Berlin.

Er hat sehr gerne Verhandlungen geführt. Er sah in deren Ergebnissen die Möglichkeit, mit der Politik der kleinen Schritte menschliche Erleichterungen durchzusetzen. Aber es gab ja nicht nur die Abkommen. Mein Vater hat auch den Freiraum genutzt, den er hatte. In der Ständigen Vertretung trafen sich DDR-Bürger und redeten miteinander, die sonst keine Möglichkeit dazu hatten – ein regimekritischer Schriftsteller und eine SED-Kulturbeauftragte zum Beispiel.

Günter Gaus ist oft vorgeworfen worden, er habe am System der DDR zu wenig Kritik geübt.

Das ist wirklich eine groteske Vorstellung. Hätte er bei seiner Akkreditierung die Faust gen Himmel recken und brüllen sollen: "Nieder mit dem Kommunismus"? Dann wäre er wohl kaum akkreditiert worden. Die Vorstellung, dass jemand sieben Jahre auf diesem Posten bleibt, der nicht im Interesse seines Staates handelt, ist genauso absurd wie die Vorstellung, dass jemand, der so gern Erfolg hatte wie mein Vater, nicht versuchen würde, bei Verhandlungen das Maximum rauszuholen.

Wie nah lag ihm der Sozialismus?

Er hat den Versuch, nach dem Terror des Nationalsozialismus einen sozialistischen Staat aufzubauen, mit Sympathie beobachtet. Daraus abzuleiten, wie es oft geschehen ist, er habe die Mauer, das Stasi-Spitzelsystem oder das Unrecht, das in der DDR geschah, ebenfalls mit Sympathie begleitet, halte ich für infam.

Mein Vater war nie Kommunist, weil er nicht an die grundsätzliche Veränderbarkeit des Menschen glaubte, die notwendig wäre, um im Kommunismus leben zu können. Aber er fand den Kommunismus eine berauschende Idee, und es hat ihn betrübt, dass er ihn für nicht realisierbar hielt.

Hat Ihr Vater gejubelt, als die Mauer gefallen ist?

Ich war nicht dabei. Ich war zu dem Zeitpunkt in Afrika. Aber wir telefonierten, und meine Mutter sagte: "Es wird alles sehr, sehr schwierig werden. Aber jetzt freuen wir uns einfach nur vorbehaltlos." Das heißt, meine Eltern haben die Probleme vorher gesehen. An die blühenden Landschaften hat mein Vater nicht geglaubt.

Wie hat er den Vereinigungsprozess beurteilt?

Die Zerschlagung der DDR-Wirtschaft, das Tempo und die Form der Währungsreform, die Art und Weise, wie Glücksritter aus dem Westen auch im Osten versucht haben, die schnelle Mark zu machen, das alles hat ihn zutiefst erbittert.

Er war auch enttäuscht darüber, dass sich die Westdeutschen nicht für Ostdeutschland interessierten. Er hat gesagt: Ganz Westdeutschland hat ein Urteil über die ostdeutsche Bevölkerung, und man fährt nicht hin, um sich dieses Urteil bloß nicht durch Fakten kaputt machen zu lassen.

Er hat den Begriff der Nischengesellschaft in der DDR eingeführt. Was meinte er damit?

Er wollte deutlich machen, dass es Dinge in der DDR gab, die für einen großen Teil der Bevölkerung erfreulich waren, zum Beispiel keine Angst vor Arbeitslosigkeit, keine Angst vorm Absturz ins soziale Nichts. Selbstverständlich war er der Meinung, dass es barbarisch ist, wenn man Menschen ihre intellektuelle Freiheit oder die Reisefreiheit verweigert.

Aber die Leute, die darauf keinen so großen Wert legten, die lieber ein geordnetes und sicheres Leben führen wollten, die hatten eine Nische, in der der Staat sie weitestgehend in Ruhe gelassen hat. Dass die Wirtschaft auf tönernen Füßen stand, wie man heute weiß, hat an dem damaligen subjektiven Gefühl der Sicherheit ja nichts geändert.

Es hat meinen Vater rasend gemacht, dass man darauf nicht hinweisen kann, ohne dass einem unterstellt wird, man halte die DDR generell für das bessere System. Dieses Maß an Differenzierung war kaum zu vermitteln. Das hat sicher zu seinem kritischen Urteil über die Medien, das er gegen Ende seines Lebens hatte, beigetragen.

Auch der SPD gegenüber war er zuletzt kritisch eingestellt. 1976 war er in die Partei eingetreten, 2001 hat er sie verlassen. Können Sie zum Abschluss die Gründe dafür nennen?

Er wollte die uneingeschränkte Solidarität, die Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA nach den Anschlägen vom 11. September versprochen hatte, und die Kriegseinsätze einschlossen, nicht mittragen. Außerdem hat er sich sehr über den Abbau von Sozialleistungen geärgert.

Aber ich kann mir keine andere Partei vorstellen, in der er eine politische Heimat hätte finden können. Mein Vater war in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat.