90 Jahre Richard von Weizsäcker

Der ehemalige Bundespräsident mahnt: Die Freiheits- und Grundrechte leben von dem, was wir daraus machen

Er ist "der Preuße aus Stuttgart". Das sagt Altkanzler Helmut Schmidt anerkennend und freundschaftlich über Richard von Weizsäcker. Morgen feiert der ehemalige Bundespräsident seinen 90. Geburtstag.

Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker bewegt sich auf einer ganz eigenen politischen Umlaufbahn: Es ist die des von allen Bürgern anerkannten und verehrten Staatsmannes. Nur dem etwas älteren früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt werden eine vergleichbare Wertschätzung und ein solcher Respekt zuteil.

Die beiden "Elder Statesmen" sind befreundet. Man schätzt sich, große Worte sind überflüssig. Für Schmidt ist "der Preuße aus Stuttgart" als Präsident "herausragend"; Weizsäcker wiederum lobt Schmidt, "der einfach gut zu regieren verstand".

Auf den zuweilen ungeduldigen Schmidt projizieren die Deutschen die Sehnsucht nach politischer Entschlossenheit, die Sicherheit verheißt und feste Orientierung bietet. Schmidt antwortet auf die Verehrung mit beinahe schroffer Abwehr – und wird für seine kauzige Unnahbarkeit nur noch mehr geschätzt.

Auf Richard von Weizsäcker hingegen konzentriert sich der Wunsch vieler Bürger nach Ausgleich im täglichen Streit und Gezerre in der Parteiendemokratie. Er entspricht diesem Begehren mit moderaten Äußerungen über parteipolitische Grenzen hinweg.

Dennoch ist Eindeutigkeit ein roter Faden im Leben des Mannes, der morgen seinen 90. Geburtstag feiert. Er hat stets Stellung bezogen, in welcher Funktion auch immer: als Präsident des Evangelischen Kirchentages, als CDU-Bundestagsabgeordneter, Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundespräsident – und er tut es noch heute. Sohn Fritz sagt mit witziger Anerkennung: "Vater ist immer beschäftigt. Er ist wie ein Fahrrad – wenn es nicht fährt, fällt es um."

Die Frage der Fernsehjournalistin Sandra Maischberger, welchen Beruf er denn ausübe, beantwortet der Ex-Präsident geradezu lustvoll distanziert: "Ich bin Zeitzeuge. Das ist ganz schön anstrengend." Gern hat er sich in Anspielung auf die begrenzten Möglichkeiten des Amtes zur Einflussnahme auch als "Zeitungsleser" bezeichnet, wie der langjährige "Zeit"-Chefkorrespondent Gunter Hofmann notiert.

Doch diesen schmalen Spielraum nutzt er souverän mit der Macht des Wortes. Weizsäcker stößt mit seinen Reden Debatten an: beispielsweise über Friedenspolitik und Aussöhnung, über die Parteien, über Europa und die Einheit der Nation.

In seiner Familie spiegeln sich die Brüche und Fehler des deutschen Bürgertums wider – aber eben auch die Konsequenzen, die aus der Katastrophe der Nazi-Diktatur zu ziehen waren.

Ernst von Weizsäcker, der Vater, dient unter Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop als Staatssekretär. Seine Überzeugungen und Zweifel münden in der Formel, es gelte das Schlimmste zu verhindern: Krieg. Ist das die Rechtfertigung eines auch Verblendeten, der die Wirklichkeit nicht sehen will?

Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen die Hauptverantwortlichen im Auswärtigen Amt wird Ernst von Weizsäcker zu sieben Jahren Haft verurteilt, später aber vorzeitig entlassen. Richard von Weizsäcker tritt als Hilfsverteidiger auf. Die Solidarität macht den Sohn keineswegs blind für die Frage der Schuld, aber in seiner Güterabwägung hat sich der Vater nicht schuldig gemacht, wenngleich er gescheitert ist. Dazu steht Richard von Weizsäcker, so wie er zu den Lehren steht, die er als Soldat gezogen hat. Der Tod seines Bruders Heinrich in Polen wird zu einer lebenslangen Verpflichtung, für den Frieden zu wirken.

Schon früh setzt er sich für die Aussöhnung mit Polen ein und plädiert für die Ratifizierung des Warschauer Vertrages. Damit macht sich der Christdemokrat in der aufgewühlten Zeit der Ostpolitik des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt nicht nur Freunde in der Union. Aber er hält Kurs, sein Kompass sind Überzeugungen.

Im Rückblick läuft der Lebensweg Richard von Weizsäckers förmlich auf ein Amt zu: das des Bundespräsidenten. Dabei hätte er natürlich auch eine erfolgreiche Karriere als Anwalt oder in der Wirtschaft machen können.

Anfang der 1990er Jahre attackiert der Bundespräsident Weizsäcker die Parteien als "machtversessen" und – was konkrete Lösungen angeht – "machtvergessen". Die Kritik löst ein gewaltiges innenpolitisches Echo aus. Und sie zeigt zugleich, wie geschickt es Weizsäcker versteht, Härte in der Sache mit weiser Abgeklärtheit zu verbinden. Er ist auch für Machtfragen zuständig, keineswegs nur für die Moral.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Mann, der Weizsäcker fördert und ihm schließlich den Weg in das höchste Staatsamt ebnet, an sich selbst scheitert: Helmut Kohl. Der CDU-Vorsitzende verübelt dem Präsidenten dessen Parteienschelte, er sieht darin einen persönlichen Angriff – ausgerechnet Kohl, der sich später in der Parteispendenaffäre über das Gesetz stellt und die Warnungen Weizsäckers dramatisch bestätigt.

Die Macht des Wortes nutzt Richard von Weizsäcker in beeindruckender Weise 1985 mit seiner Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Es ist "die" Rede, eine Rede, die gültig ist. Für viele Deutsche war der 8. Mai 1945 bis dahin der Tag der Niederlage. Der Bundespräsident stellt eindringlich klar: Es ist ein Tag der Befreiung. "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."