Hannover (dpa/lni) - Wund gelegene Patienten, irrtümlich falsch gegebene Medikamente, kaum Zeit für Gespräche - die bundesweit rund 1,2 Millionen Beschäftigten in der Alten- und Krankenpflege sind zunehmend überfordert. Verbände schlagen Alarm: „Es hapert in vielen Bereichen“, bilanziert der Geschäftsführer des Deutschen Pflegeverbandes (DPV), Rolf Höfert, auf Europas größter Fachmesse für Altenpflege, der „Altenpflege+ProPflege 2006“, in Hannover. Dort beraten bis zu diesem Donnerstag mehr als 2000 Experten über den für die kommenden Jahre prognostizierten Pflegenotstand.

Die Gesellschaft altert rasant. Problem: Die Älteren müssen von immer weniger Jüngeren betreut werden. Auch wenn im vergangenen Jahr rund 25 000 Stellen in der Pflege geschaffen worden seien, fehlten immer noch mehr als 200 000, mahnt Höfert. Die Folge: „Es kommt im Pflegesystem immer mehr zu Konflikten. Vor allem bei Drückgeschwüren häufen sich die Fälle.“ Jährlich lägen sich rund 800 000 Menschen wund, knapp 40 000 Patienten stürben sogar daran, sagt Höfert unter Berufung auf Studien wie die der Medizinischen Hochschule Hannover.

„Das wäre aber in 95 Prozent aller Fälle zu vermeiden“, ärgert sich der DPV-Geschäftsführer. Dem Wundliegen, das die Medizinischen Dienste der Krankenkassen als Hauptpflegemangel ausmachen, könne durch einfache Mittel entgegen gewirkt werden: Sorgfältige Hautpflege der Bettlägerigen, Lagewechsel sowie weiche Spezialmatratzen. „Aber wenn viele Kranke auf der Station liegen, bleibt dafür keine Zeit“, meint die Chefin der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände und Pflegeorganisationen, Renate Heinzmann. „Die Fachkräfte klagen vermehrt über Stress und Arbeitsverdichtung.“ Die so dringend nötige Weiterbildung bleibe dabei auf der Strecke.

Den Fortbildungsmangel - auch bei den Ärzten - beklagt ebenfalls die ehemalige Pflegedirektorin des Krankenhauses im ostfriesischen Aurich, Veronika Gerber. Problematisch sei, dass Pflegende auf ärztliche Anordnungen angewiesen, oft jedoch fachlich kompetenter seien. „Die Kräfte müssen Therapien erdulden, die teilweise nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen“, schildert Gerber. So würden häufig unzureichende Behandlungen verordnet, die auf den ersten Blick billiger erscheinen. „Die Folgekosten, weil Nachbehandlungen nötig werden, sind dementsprechend immens.“

Rolf Hirsch, Vorstandsmitglied des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, sieht vor allem die Politik in der Pflicht. „Die Missstände sind nicht nur von den Pflegenden zu verantworten.“ Viele Heime seien schlecht ausgestattet oder zu voll. „Je größer ein Heim, desto schlampiger ist die Arbeit“, betont Hirsch. Vor allem Tötungsdelikte in Pflegeeinrichtungen beunruhigen den Experten. Fälle wie in Köln oder dem bayrischen Sonthofen, wo ein Krankenpfleger 29 Patienten getötet haben soll, seien keine Ausnahme, sagt Hirsch. Die beschuldigten Pfleger sollen aus Mitleid die Kranken mit Chemikalien oder Medikamenten zu Tode gespritzt haben.

Hirsch beobachtet bereits seit Jahren, dass viele Pflegekräfte vereinsamen, mit dem Arbeitsstress und dem Leid der Betroffenen nicht mehr klar kommen. „Wir brauchen eine Todes- und Medikamentenstatistik in den Heimen“, verlangt der Fachmann. „Dann fällt schnell auf, wenn etwas wegkommt oder viele Menschen sterben.“

Rolf Höfert vom Pflegeverband fordert angesichts zunehmender Kriminalität in Heimen und der Überalterung der Gesellschaft, der chronischen Unterbesetzung entgegen zu wirken. Ansonsten drifte Deutschland „in zehn Jahren in den Pflegenotstand“. Nach Angaben der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege werden 2020 fast drei Millionen Menschen pflegebedürftig sein.