Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV: Interview mit Pfarrer Christian Führer von der Leipziger Nikolaikirche

Am 2. Oktober findet in Berlin die erste zentrale Großdemonstration gegen die rot-grünen Arbeitsmarkt-Reformen – Hartz IV genannt – statt. Das ist das wichtigste Ergebnis eines Treffens der Organisatoren von Montagsprotesten aus mehr als 50 Städten, die sich in Leipzig über die soziale Einheit Deutschlands austauschten. Einer der Teilnehmer dieser in der Tradition der Runden Tische des Wendeherbstes 1989 stehenden Beratung war Pfarrer Christian Führer von der evangelischen Leipziger Nikolaikirche. Mit ihm sprach Hans Heise.

Womit hat sich dieser Runde Tisch beschäftigt?

In Leipzig, der Wiege der friedlichen Revolution gegen das SED-Regime, haben wir – oft in kontroverser Diskussion – einen Klärungsprozess zum Abschluss gebracht, der nach dem zunehmenden Missbrauch der Montagsdemonstrationen durch linke und rechte Kräfte für parteipolitische und ideologische Zwecke aufgebrochen war.

Was ist unter Klärungsprozess zu verstehen?

Es ging um die Wahrung der Selbständigkeit, der Durchschlagskraft und der Überparteilichkeit der Demos als Ausdruck des Kampfes gegen Hartz IV. Wichtig waren konkrete Ergebnisse. So werden die Organisatoren der Proteste bundesweit für den 2. Oktober zu einer ersten zentralen Großdemonstration in Berlin aufrufen. Außerdem wurde von allen Teilnehmern, darunter auch DGB-Chef Michael Sommer (SPD), unterstrichen: Die Montagsdemos dürfen vor allem im Osten nicht mehr als Stimmenfangaktionen von PDS und rechten Gruppierungen missbraucht werden. Man wird das bei der Vorbereitung künftig stärker beachten.

Nun soll ja Oskar Lafontaine heute abend auf der Demo vor dem Opernhaus in Leipzig sprechen...

Die Einladung an den Ex-SPD-Chef haben wir als Verantwortliche der Nikolaigemeinde nicht ausgesprochen. Das war wohlüberlegtes Kalkül der Wahlinitiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit, die als Trittbrettfahrer das Forum heute Abend nutzen will, um einen weiteren Schritt auf das Ziel neue Linkspartei hin zu tun. Ich sage: Oskar Lafontaine brauchen wir bei unseren Protesten nicht. Es war bisher ungeschriebenes Gesetz, dass die Montagsdemonstrationen Podium des Volkes sind. Das ist mit der eingetretenen Entwicklung gefährdet. Mehr noch: Die Angst und Unruhe der Menschen wird durch gruppenegoistische Ziele – vor allem jetzt mit Blick auf die Landtagswahlen am 19. September in Sachsen – ausgenutzt. Deshalb werde ich mich erst danach wieder an Protestdemonstrationen beteiligen. Im übrigen stehen wir mit dieser Haltung nicht allein da: Im Streit um die Lafontaine-Rede trat inzwischen auch Winfried Helbig, der Sprecher des Mitveranstalters Leipziger Sozialforum, zurück.

Den von der Nikolaikirche ausgehenden Montagsdemonstrationen gingen stets Friedensgebete voraus. Werden Sie daran festhalten?

Natürlich wird es wie seit 1982 auch weiterhin jeden Montag Friedensgebete in unserer Kirche geben. Dazu ist jeder herzlich willkommen. Nach den machtvollen Aktionen im Herbst 1989, die zum Sturz des SED-Regimes führten, schlossen sich seit dem Frühjahr dieses Jahres den thematisch gestalteten Gebeten wieder Demonstrationen an – erst für die Schaffung von Arbeitsplätzen im Osten Deutschlands, später für die Beendigung des Mordens im Irak. Doch jetzt – sozusagen bei der Stimmungsmache auf Teufel komm raus – kann man vorerst nicht mehr auf mich und die Unterstützung durch die Nikolaigemeinde zählen.

Was wäre denn ein möglicher Anlass für ein erneutes Engagement?

Sehen Sie, Hartz IV ist ja nicht der Abgrund, vor dem vor allem der Osten steht. Hartz IV ist vielmehr der endlich eingeleitete Beginn notwendiger Reformen unseres Sozialstaates. Als wichtige Aufgabe für die rot-grüne Bundesregierung steht aber nach wie vor, der Bevölkerung diese Reformen und deren Notwendigkeit zu erklären, sie den von Arbeitslosigkeit viel stärker betroffenen Menschen im Osten unseres Landes Schritt für Schritt näher zu bringen. Überdies könnte bei Hartz IV durchaus noch nachgebessert werden. Es darf keine endgültige soziale Spaltung zwischen Ost und West, vor allem keine Spaltung zwischen Menschen mit und ohne Arbeit geben.

Wie könnte das Ihrer Meinung nach erreicht werden?

Wir Ostdeutsche können bei der Gestaltung einer Revolution auf Erfahrungen von 1989 verweisen. Damals war es ein friedliches Aufbegehren des Volkes, das zum Erfolg führte. Heute würde eine mentale Revolution – da bin ich mir sicher – ein ähnliches Ergebnis bringen. Denn Gewalt – ob Eierwurf oder Prügelei zwischen ideologisch gegensätzlich ausgerichteten Gruppierungen – hat bei Protestdemonstrationen nichts zu suchen. Verbesserung der sozialen Lage schließt schlagende Argumente aus.