Am 2. Februar 1978 begann der Indizienprozess um den brutalsten Mord in Braunschweig seit 1945

Ein großes Ding werde er abziehen. Und es werde keine Zeugen geben, kündigte Ferenc Sos seinen Mithäftlingen schon Ende der 60er Jahre in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel an.

Einen Tag vor Heiligabend des Jahres 1976 wurde der 42-jährige Exil-Ungar vorzeitig aus der Haft entlassen.

Als am Donnerstag, 20. Januar 1977, um 22.30 Uhr, in den Spätnachrichten von Geiselnahme, Erpressung und fünffachem Mord in Braunschweig berichtet wurde, reagierte in "Santa Fu" der Häftling Waldemar S. wie elektrisiert. Über die Notklappe seiner Zelle alarmierte er die Justizwachtmeister: "Ich weiß, wer es war!"

Das war geschehen: In einem Einfamilienhaus in Braunschweig-Mascherode war am Morgen des 20. Januar 1977 das Ehepaar Wolfgang (46) und Brigitte (40) Kraemer mit seinen Kindern Stefan (16), Nele (11) und Martin (6) erdrosselt gefunden worden. Im Wohnzimmer fand sich ein Schreiben einer Befreiungsbewegung Baader-Meinhof.

Die Terror-Welle in Deutschland hatte scheinbar Braunschweig erreicht. Ein Fall für den Braunschweiger Staatsanwalt Karl-Heinz Reinhardt, der seit 1975 für Terrorismus-Bekämpfung zuständig und Mitarbeiter des Generalbundesanwaltes Siegfried Buback war.

"Ich habe damals den Fall dem Generalbundesanwalt fernmündlich vorgetragen und deutlich gemacht, dass es sich um Mord ohne terroristischen Hintergrund handele", erinnert sich Reinhardt.

Inzwischen hatten die Braunschweiger Ermittler ein genaueres Bild von der grausamen Tat:

Bankdirektor Wolfgang Kraemer hatte am Abend des 19. Januar, einem Mittwoch, den Prokuristen seiner Bank, Kurt R., angerufen und mitgeteilt, dass seine Familie weg sei. Er werde von bewaffneten Männern bedroht, die der Befreiungsbewegung Baader-Meinhof angehörten. Die Männer forderten 700 000 bis 1 Million D-Mark. Kurt R. solle nun zur Bank fahren, um das Geld zu beschaffen. Dazu müsse er den Leiter der Effektenabteilung, Heinz F., herbestellen, dem er aber nicht sagen solle, worum es sich handele. Dann solle Kurt R. das Geld allein zu Kraemers Haus bringen.

Kurt R. und Heinz F. öffneten den Bank-Tresor, fanden aber lediglich 165 000 D-Mark vor. Kurt R. teilte das telefonisch Kraemer mit, der nun offenbar mit ein oder zwei Männern verhandelte. Kraemer sagte schließlich, die Männer seien mit 165 000 D-Mark einverstanden.

Kurt R. fuhr nach Mascherode und übergab das erpresste Geld in einer bankeigenen Geldtransporttasche an der Haustür seinem Chef. Er versprach, Stillschweigen zu wahren und die Polizei nicht zu alarmieren. Da war es 22.30 Uhr. Um 7 Uhr am nächsten Morgen konnte Kurt R. nicht länger schweigen. Er benachrichtigte die Bankdirektoren Günther F. und Claus R.. Günther F. alarmierte schließlich die Polizei.

Um 8.30 Uhr fand Kriminalrat Wilhelm Regtmeier im Hause Kraemer fünf Leichen in fünf Zimmern. Die Brutalität der Tat ließ Ermittler und Staatsanwalt an mehrere Täter glauben. "Wir konnten uns nicht vorstellen, dass ein Mann allein diese Morde begehen konnte", sagt Reinhardt.

Am Freitag, 21. Januar, erreichte die Braunschweiger Ermittler die Nachricht aus der Hamburger Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, Häftling Waldemar S. könne etwas zu dem Täter sagen.

"Das war Spur Nummer 20", sagt Reinhardt. "In mehr als 100 Hauptspuren und zu mehr als 1000 Hinweisen ermittelte die 80-köpfige Mordkommission, die alle irgendwann endeten. Aber Spur Nummer 20 führte zu immer neuen Erkenntnissen."

Waldemar S. berichtete den Ermittlern aus dem Gedächtnis den Tatablauf, wie ihn sich Ferenc Sos schon Jahre zuvor überlegt hatte.

"Kriminalhauptkommissar Werner Kaeding, Leiter der Mordkommission, gab zu bedenken, dass Sos vermutlich für immer weg wäre, wenn wir jetzt nicht zugriffen." Die Übereinstimmungen mit den am Tatort gefundenen Spuren und dem bisher bekannten Tatablauf ließen die Ermittler handeln: Am 23. Januar, einem Sonntag, wurde Ferenc Sos in seiner Wohnung in Hamburg vorläufig festgenommen. Einen Tag zuvor war er 43 Jahre alt geworden.

"Als wir Sos hatten, hatten wir zudem auch drei Indizien gegen ihn", berichtet Reinhardt. Im Hause der Familie Kraemer waren Zigarettenkippen der Marke "Reval" gefunden worden, die Sorte, die auch Sos rauchte. Zur Erdrosselung der Familie Kraemer war Paketband benutzt worden. Solches Band wurde bei Sos gefunden. Schließlich haftete an einem seiner Kleidungsstücke ein grüner Mohair-Faden. "Nele Kraemer war bei ihrer Ermordung mit einem grünen Mohair-Pullover bekleidet", sagt Reinhardt zu den Indizien. "Der Haftbefehl wurde erlassen."

"Ich fuhr nach Hamburg, um mir ein Bild von der einer derartigen Mordtat verdächtigen Persönlichkeit zu machen", erinnert sich Reinhardt. "Als ich ihn traf, verbreitete er eine so große Kälte um sich, dass ich meinte, er könne der Täter sein, aber als einer von mehreren."

Nach acht Monaten erhob Staatsanwalt Reinhardt am 23. September 1977 Anklage gegen Ferenc Sos. Er galt nach allen Ermittlungsergebnissen als Haupttäter, dass er Gehilfen hatte, konnte nicht ausgeschlossen werden.

Indiz um Indiz war zusammengetragen worden: Sos war in der Tatnacht in einem Zug von Braunschweig nach Hamburg gesehen worden. Bekannte des Verdächtigen hatten ihn am Tag nach der Tat nervös erlebt. Er sei erpicht darauf gewesen, Nachrichten zu hören. Indirekt räumte er sogar ein, die Tat begangen zu haben.Verbrannte Bank-Banderolen des Lösegeldes wurden in seinem Keller gefunden.

Auf das Versteck des Lösegeldes wies schließlich der zunächst als Mittäter verhaftete Sos-Bekannte Karl-Heinz P. hin. In einer Geldkassette, die eindeutig Sos gekauft hatte und die an einem Autobahnzubringer in Hamburg vergraben worden war, wurden 140 000 D-Mark des Lösegeldes gefunden. P. schied alsbald als Mittäter aus.

Ferenc Sos schwieg während der 34-tägigen Verhandlung vor dem Schwurgericht am Landgericht Braunschweig zur Tat. Den Vorsitz führte Richter Manfred Flotho.

Sos bestritt jede Beteiligung. Er sah sich als Opfer einer Intrige.

Gleichwohl hielt ihn das Gericht für den Täter und verurteilte ihn zu lebenslanger Freiheitsstrafe, die auf mindestens 35 Jahre festgesetzt wurde. "Das ist eine der höchsten Freiheitsstrafen, die bisher im Nachkriegs-Deutschland verhängt wurde", sagt Reinhardt.

Die Freiheitsstrafe wird noch immer und auch weiterhin vollstreckt.