Washington . Eskalation um Abtreibungspille: Der Streit dürfte auf die US-Präsidentschaftswahl abstrahlen. Zuvor ist der Oberste Gerichtshof am Zug.

Als der Oberste Gerichtshof der USA im vergangenen Sommer nach fast einem halben Jahrhundert das bundesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch kippte, sprachen militante Abtreibungsgegner nur von einem Zwischenschritt im Kampf um das ungeborene Leben. Ihr erklärtes Ziel: Als nächstes müsse der „Tod per Post” beendet werden.

Gemeint ist die seit dem Jahr 2000 in den Vereinigten Staaten rund 5,6 Millionen Mal verabreichte Doppel-Pille Mifepriston/Misoprostol. Sie ermöglicht bis zur zehnten Schwangerschaftswoche eine behördlich genehmigte und von Ärzten weithin als unbedenklich eingestufte medikamentöse Abtreibung.

Abtreibungspille: Rechtskonservativer Richter als Fahnenträger der Gegner

Um das Präparat zu bekommen, mussten Frauen bislang nicht in eine ärztliche Praxis gehen. Es wird nach fernmündlicher Konsultation oder Video-Telefonie verschickt. In 1500 Fällen wurden laut der Arzneimittelbehörde FDA Komplikationen verzeichnet, ohne dass ein nachweisbarer Zusammenhang zu dem Medikament hergestellt werden konnte.

Ein vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump ernannter rechtskonservativer Bundesrichter im texanischen Amarillo hat sich jetzt zum Fahnenträger jener Minderheit aufgeschwungen, die solche Schwangerschaftsabbrüche in den USA komplett unterbunden wissen will.

Regierung ruft das oberste Gericht an

Matthew Kacsmaryk hat sich in seiner Verbotsanordnung zum Zensor der FDA gemacht; bar jeder fachlichen Expertise. Die FDA hatte die Pille vor über 20 Jahren nach langer Prüfung zugelassen. Seine auf 60 Seiten dargelegte Argumentation, wonach Mifepriston erhebliche Risiken berge, ist nach Bewertung der Regierung in Washington in ihrer aktivistischen Diktion nahezu identisch mit Vorstößen von Anti-Abtreibungs-Organisationen wie dem Guttmacher-Institut.

Kurios: Parallel dazu hatte ein Bundesrichter im demokratisch regierten Bundesstaat Washington konträr zu Kacsmaryk entschieden, dass Mifepristone in rund 20 Bundesstaaten weiterhin zur Verfügung stehen muss. Um die Versorgung von Hilfe suchenden Frauen zu gewährleisten, denen in weit mehr als der Hälfte der Bundesstaaten die ärztliche Abtreibung durch regionale Gesetze nach der sechsten Woche fast ausnahmslos untersagt ist, haben etwa in Kalifornien, New York, Massachusetts und Michigan die zuständigen Gouverneure/-innen Notfall-Vorräte der besagten Abtreibungspillen im Millionen-Umfang angelegt.

Keine sachgerechte Entscheidungen über Zulassung von Medikamenten?

Mifepriston, in Deutschland unter Mifegyne bekannt, hemmt die hormonelle Wirkung von Progesteron, das die Schwangerschaft erhält. Dadurch öffnet sich der Muttermund. Der Embryo löst sich aus der Gebärmutter. Misoprostol, das wenige Tage später einzunehmen ist, führt zu ­Kontraktionen der Gebärmutter. Ähnlich wie bei einer Fehlgeburt wird das Schwangerschaftsgewebe abgestoßen.

Weil Richter Kacsmaryk nur wenige Tage zum Einspruch gewährte, reagierte das Justizministerium in Washington sofort. Minister Merrick Garland wandte sich an das zuständige Berufungsgericht in New Orleans mit der Forderung, das Verbot aufzuheben.

Nicht ohne Auswirkungen auf die Stimmungslage vor den Präsidentschaftswahlen

Dort wurde jetzt vorläufig entschieden, dass die Pille unter Einschränkungen bis zur endgültigen juristischen Klärung weiter verordnet werden darf. Aber: Frauen müssen dafür persönlich zum Arzt gehen. Und nach der siebten Schwangerschaftswoche ist das Medikament untersagt.

Justizminister Garland sieht darin eine unzumutbare Erschwernis gegenüber der bisherigen Praxis. Außerdem hält er die neue Befristung für willkürlich. Der Demokrat hat darum den Supreme Court in Washington zu einer Eil-Entscheidung gedrängt.

Spätfolge der Trump-Ära: Konservative Schlagseite des Gerichts

Die finale Streitschlichtungs-Instanz hat durch die Personalauswahl in der Präsidentschaft Donald Trumps nominell eine konservative Schlagseite von 6:3-Stimmen bekommen. Wie das zuletzt erheblich unter Glaubwürdigkeitsverlust leidende Gremium entscheiden wird, ist offen, kann aber erhebliche Auswirkungen auf die politische Stimmungslage vor den Präsidentschaftswahlen 2024 haben.

Eine breite Bevölkerungsmehrheit lehnte bereits das Urteil aus dem vergangenen Sommer ab. Dadurch würden die USA zum Flickenteppich: In etlichen Regionen herrscht de facto ein Abtreibungsverbot. In anderen sind Schwangerschaftsabbrüche weiterhin legal.

Abtreibungstourismus als Folge der Rechtsunsicherheit

Dies führt seit Monaten zu einem Abtreibungs-Tourismus. Vor allem sozial schwächere Frauen, häufig Afro-Amerikanerinnen, können sich das nicht leisten. Sie sind, sagen Fachverbände, auf die Verschickung der Abtreibungspille per Post angewiesen. Über 70 Prozent der Amerikaner lehnen Einschränkungen, wie sie das Berufungsgericht in New Orleans mit 2:1-Stimmen durchgesetzt hat, ab.

Dabei geht es auch um die Genehmigungsverfahren der FDA. 400 Top-Vertreter amerikanischer Pharma- und Biotech-Unternehmen haben vehement davor gewarnt, dass die Entscheidung von Provinzrichter Kacsmaryk Schule machen könnte. Die Zulassung von Medikamenten dürfe niemals religiös-weltanschaulichen Ansichten von einzelne Richtern ausgesetzt werden. Wenn sich die Industrie nicht mehr auf die Rechtssicherheit der FDA-Zulassungsprozesse verlassen könne, sei die Forschung im Gesundheitsbereich insgesamt gefährdet.

Florida beschließt schärferes Abtreibungsrecht

Für die Republikaner ist das Thema brandgefährlich. Restriktionen bei der Abtreibung haben sie bei den Zwischenwahlen zum Kongress im vergangenen Herbst wichtige Stimmen gekostet. Erst kürzlich verlor ein konservativer Richter-Kandidat für das regionale Verfassungsgericht im wichtigen Bundesstaat Wisconsin gegen eine demokratische Pro-Abtreibungskandidatin.

Das nächste Opfer könnte Florida-Gouverneur Ron DeSantis sein. Der Trump-Rivale um die Präsidentschaftskandidatur 2024 hat gerade ein Gesetz unterzeichnet, das im Sonnenschein-Staat Abtreibungen nach der sechsten Woche unter Strafe stellt. „Sollte er die Kandidatur erringen”, sagen Analysten in Washington, „wird bei der Wahl 2024 die Strafe auf dem Fuße folgen.”