Berlin. Die Wohnungsnot in Deutschland ist so groß wie seit 30 Jahren nicht mehr. Gerade ältere Menschen haben Probleme bei der Wohnungssuche.

Lukas Siebenkotten, Präsident des Deutschen Mieterbundes, redet nicht lange drumherum. „So laut wie jetzt haben die Alarmglocken des Wohnungsmangels lange nicht mehr geschrillt“, sagte er unserer Redaktion. „Die Situation auf dem Wohnungsmarkt wird immer dramatischer.“

Seit Jahren fällt es insbesondere in den Metropolregionen vielen Menschen immer schwerer, ein bezahlbares Dach über den Kopf zu finden. Zuletzt zogen auch die Preise in den mittelgroßen Städten an. Das vergangene Jahr hat die Lage massiv verschärft. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine Fluchtbewegung ausgelöst und zugleich die wirtschaftlichen Parameter verändert. Energie- und Materialpreise schossen in die Höhe, die Bauzinsen vervierfachten sich. Lesen Sie auch den Kommentar: Wohnungsbau in der Krise – Warum Scholz jetzt gefragt ist

Wohnen: Der Neubau bricht ein, die Mieten steigen

Die Folge: Der Wohnungsbau bricht ein. Am Mittwoch legte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung Zahlen vor, wonach das Bauvolumen erstmals seit Jahren wieder gesunken ist. „Wenn der Wohnungsneubau weiterhin lahmt, wird 2023 zu einem sehr harten Jahr für die Mieterinnen und Mieter“, warnt Siebenkotten.

Gerade erst kam das Immobilienportal Immowelt in einer Analyse von Angebotsmieten von Bestandswohnungen zu dem Schluss, dass in 75 von 79 Großstädten die Mieten im vergangenen Jahr gestiegen seien. Vor allem in kleineren Großstädten wurde es richtig teuer, in Lübeck betrugen die Mietpreissteigerungen beispielsweise 13 Prozent. Lesen Sie hier: Wohn-Check – Was sich Durchschnittsverdiener leisten können

Wohnungsnot so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr: 700.000 Wohnungen fehlen

Die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum übersteigt derzeit deutlich das Angebot. Die Wohnungsnot in Deutschland ist so hoch wie seit 30 Jahren mehr – 700.000 Wohnungen fehlen. Zu diesem Schluss kommen das Hannoveraner Pestel-Institut und das landeseigene schleswig-holsteinische Wohnungsbauinstitut Arge in einer neuen Studie, die unserer Redaktion vorab vorliegt. Erstellt wurde die Untersuchung im Auftrag des Verbändebündnisses Wohnen, einem breiten Zusammenschluss aus Mieterbund, der Baugewerkschaft IG BAU, der Caritas sowie Architekten- und Maurerverbänden.

Das Bild, das die 48-seitige Studie zieht, ist ernüchternd: „Für das Jahresende 2022 ist von Wohnungsdefiziten in einer Größenordnung von 700.000 Wohnungen auszugehen. Dies ist mehr als die doppelte Jahresproduktion an Wohnungen.“

Die Wohnungsnot in Deutschland ist so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr.
Die Wohnungsnot in Deutschland ist so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. © imago/momentphoto/Bonss | imago/momentphoto/Bonss

Wohnungsnot: Mehr Menschen als erwartet kamen nach Deutschland

Seit Jahren ist bezahlbarer Wohnraum knapp, immer mehr Sozialwohnungen fallen aus der Sozialbindung, die Mieten ziehen an. Nun verschärft sich die Lage. Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, vor allem aber durch den Ukraine-Krieg fiel die Flucht und Migration deutlich höher als erwartet aus. 1,25 Millionen Menschen kamen in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres nach Deutschland – rund 500.000 mehr als im vergleichbaren Zeitraum im Jahr 2015. Lesen Sie dazu: Viele Ukraine-Flüchtlinge wollen in Deutschland bleiben

Im Gegensatz zu Geflüchteten aus Syrien oder Afghanistan müssen Ukrainerinnen und Ukrainer kein Asylverfahren durchlaufen. Anfangs kamen viele in Privatunterkünften unter, mittlerweile konnten viele eine eigene Wohnung finden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit kam unlängst zu dem Schluss, dass rund 60 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge in einer eigenen Wohnung leben. Im Gegensatz zu 2015 habe es laut Studie dieses Mal mit der Verteilung besser geklappt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer seien im gesamten Bundesgebiet untergekommen.

Mangelnder Wohnraum könnte Fachkräfte-Einwanderung ausbremsen

Trotzdem war Deutschlands Wohnungsmarkt auf die Situation unzureichend vorbereitet – was perspektivisch zum Problem werden wird. Schon jetzt setzt die Ampel-Koalition darauf, mehr Fachkräfte aus dem Ausland für den hiesigen Arbeitsmarkt gewinnen zu wollen. „Deutschland muss deutlich mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland anwerben. Für sie gibt es allerdings keine Wohnungen“, sagte Harald Schaum, stellvertretender Bundesvorsitzender der IG BAU, unserer Redaktion. „Wohnen und Arbeiten – das gehört zusammen. Keiner wird kommen, wenn er hier nicht oder nur zu horrend hohen Mieten wohnen kann.“

Würden 86 Prozent der Zuwanderer erwerbsfähig sein – die anderen 14 Prozent wären Kinder und Senioren –, müssten laut Studie 6,9 Millionen Menschen bis 2035 nach Deutschland kommen, um die Lücke zu decken, die die Baby-Boomer reißen, wenn sie in Rente gehen. Diese Erwerbsquote wird bislang aber nicht erreicht. Die höchste Erwerbstätigenquote haben derzeit laut Statistischem Bundesamt in Deutschland lebende Polen, die zu 78 Prozent am Arbeitsmarkt aktiv sind. Zwar dürften altersbedingt bis 2035 mehr Menschen sterben als heute, trotzdem rechnen die Wohnungsmarktforscher damit, dass bis 2035 rund 85 Millionen Menschen in Deutschland leben werden.

Studie: Kaltmiete unter 16,50 Euro pro Quadratmeter derzeit nicht zu finanzieren

Eigentlich hatte es sich die Bundesregierung als Ziel gesetzt, pro Jahr 400.000 Wohnungen neu zu bauen, darunter 100.000 preiswerte Sozialwohnungen. Würde sie dieses Ziel schaffen, könnte sie bis 2026 gerade einmal die zusätzlich entstandenen Wohnungsdefizite beheben. Doch davon ist sie weit entfernt.

Ersten Schätzungen zufolge dürften 2022 keine 300.000 neuen Wohnungen fertiggestellt worden sein – und der große Einbruch wird erst noch erwartet. Zumal der Wohnungsbau immer teurer wird. Im Mittel liegen laut der Studie die Investitionskosten für Wohnraum in Großstädten derzeit bei rund 4.900 Euro pro Quadratmeter. „Ein aktuell frei finanziert errichteter Wohnungsbau lässt unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine Kaltmiete von unter ca. 16,50 € nicht mehr zu“, heißt es in der Studie.

Bezahlbare Wohnungen werden in Deutschland zunehmend zur Mangelware.
Bezahlbare Wohnungen werden in Deutschland zunehmend zur Mangelware. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jan Woitas

Problem für Senioren: Nur eine Million Wohnungen sind barrierefrei

Das führt zu Konflikten: „Insgesamt führt Wohnungsmangel zu einer Ausgrenzung von Randgruppen in der Wohnungsnachfrage“, heißt es in der Studie. Vor allem für Senioren und Menschen mit Behinderungen wird das zunehmend zum Problem. 7,8 Millionen Menschen gelten hierzulande als schwerbehindert, mehr als die Hälfte von ihnen ist über 65 Jahre alt. Verfügbar seien derzeit aber nur rund eine Million barrierefreie Wohnungen, heißt es in der Studie. Oftmals kosten diese Wohnungen mehr Miete. Auf der anderen Seite steigt die Altersarmut, viele Seniorinnen und Senioren können sich keine höhere Miete leisten.

Und noch ein Punkt sorgt für Verknappung: Der Gebäudesektor ist ein Sorgenkind beim Klimaschutz. Viele Gebäude müssen saniert werden, um die CO2- und Energieverbrauchsvorgaben in Zukunft zu decken. 4,3 Millionen Wohnungen seien laut Studie aber in einem derart schlechten Zustand, dass eine Sanierung technisch nicht möglich oder wirtschaftlich nicht realisierbar sei. „Rein quantitativ werden diese Wohnungen aber auch künftig benötigt, denn die Zuwanderer aus anderen Ländern sollen in Deutschland in Wohnungen und nicht in Unterkünften leben“, schreiben die Wohnungsmarktforscher. Auch interessant: Was der Klimaschutz Hauseigentümer und Mieter kosten wird

Würde man allein die geplanten 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr nach energetisch hohen Standards bauen, kämen Kosten in Höhe von fast 15 Milliarden Euro zusammen. Das Verbändebündnis fordert daher bereits ein eigenes Sondervermögen für den Wohnungsbau. „Entweder Bund und Länder reißen das Ruder noch herum – und zwar jetzt. Oder wir erleben ein ungeahntes Desaster auf dem Wohnungsmarkt“, warnt Siebenkotten.