Berlin/Moskau. Berichte über ein proukrainisches Sabotage-Kommando beunruhigen die Allianz. War es eine „False-Flag“-Aktion? Was bisher bekannt ist.

Es war ein Terrorakt, mitten auf dem Grund der Ostsee. Ein Anschlag auf kritische Infrastruktur der EU – auf die zwei Nord-Stream-Pipelines Nord-Stream-Pipelines des russischen Mehrheitseigners Gazprom, die Europa mit Gas versorgen können.

Eigentümer ist ein Firmenkonsortium, an dem deutsche, französische, niederländische und österreichische Unternehmen beteiligt sind. Die Sprengung fällt in eine Zeit, in der Russland die Ukraine angegriffen hat und Energieversorgung Teil der Kriegstaktik in Russland, aber auch im Westen geworden ist. Die Ermittlungen in dem Fall sind brisant. Wir dokumentieren, was bekannt ist – und was nicht.

Northstream-Sprengung: Was war passiert?

In der Nacht zum 26. September 2022 wurden die Pipelines Nord Stream 1 und 2, die Gas aus russischen Ostseehäfen nach Mecklenburg-Vorpommern pumpen können, durch drei Explosionen zerstört. Die Pipelines waren nicht im Lieferbetrieb, aber unter hohem Druck mit Erdgas befüllt. Schwedische Ermittler fanden an den Röhren in rund 70 Meter Tiefe Sprengstoffreste. Die deutsche Bundesanwaltschaft ermittelt wegen eines „schweren gewalttätigen Sabotage-Angriffs“.

Ende September waren die von Russland nach Deutschland führenden Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 schwer beschädigt worden.
Ende September waren die von Russland nach Deutschland führenden Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 schwer beschädigt worden. © Swedish Coast Guard/dpa/Archiv

Was gibt es Neues über mögliche Täter?

Nach den jüngsten Medienberichten sollen deutsche Ermittlungsbehörden rekonstruiert haben, wie die Anschläge auf die Pipelines in der Ostsee vorbereitet wurden. Nach Recherchen der „Zeit“ gemeinsam mit der ARD ist das Boot identifiziert worden, das mutmaßlich für den Angriff in der Nacht zum 26. September benutzt wurde. Die Bundesanwaltschaft bestätigte, dass sie ein verdächtiges Schiff durchsuchen ließ. Details zu Tätern und Motiv nannten die Ermittler jedoch nicht.

Laut Medien soll es sich um eine Yacht handeln, die von einer Firma mit Sitz in Polen gechartert worden war. Die Firma soll zwei Ukrainern gehören. An der Sprengung seien den Ermittlungen zufolge fünf Männer und eine Frau beteiligt gewesen. Die Gruppe habe sich zusammengesetzt aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin. Das Team verfügte angeblich über professionell gefälschte Reisepässe, die beim Chartern vorgelegt wurden.

Das Kommando soll am 6. September 2022 vom Rostocker Hafen aus in See gestochen sein. Die Ausrüstung für die Geheimoperation sei vorher mit einem Lieferwagen in den Hafen gebracht worden. Den Ermittlern gelang es den Recherchen zufolge, das Boot am folgenden Tag offenbar in Wieck am Darß und später nahe der dänischen Insel Christiansö zu orten. Nachdem die Yacht zurückgegeben worden sei, hätten Ermittler in der Kabine Sprengstoff-Spuren nachgewiesen.

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Welche Beweise gibt es?

Beweise für die Täterschaft fehlen bislang offenbar, es bleiben verschiedene Szenarien, denen die Ermittler folgen. Zugleich gibt es immer wieder Meldungen von Geheimdiensten, die neben den Strafverfolgungsbehörden Hinweise auf mutmaßliche Täter erkennen wollen. Vieles bleibt Spekulation, jedes Detail ist zugleich politisch brisant. Belastbare Aussagen, insbesondere zur Frage einer staatlichen Steuerung, könnten die Ermittler derzeit nicht treffen, heißt es beim Bundesanwalt.

Westliche Geheimdienste sprachen laut einem Bericht der renommierten „New York Times“ zuletzt von einer „proukrainischen Gruppe“, die hinter dem Anschlag steckt. Darauf deuteten auch gespeicherte Inhalte elektronischer Kommunikation hin. Aber auch eine Operation unter falscher Flagge sei nicht auszuschließen. Bei solchen „False Flag“-Aktionen hinterlassen Täter bewusst Spuren, die auf einen anderen vermeintlichen Schuldigen deuten sollen.

Allerdings gibt es auch für eine „False-Flag-Aktion“ bisher keine Hinweise. Die Ermittler irritiert, dass die Yacht in ungereinigtem Zustand zurückgegeben wurde und daher der Fund von Sprengstoffspuren sehr einfach war. Durch Versenken oder Reinigen der Yacht hätten sich Spuren beseitigen oder zumindest verschleiern lassen – sofern die Täter ihre Tat verwischen wollten.

Was sagen Ukraine und Russland?

Die Regierung in Kiew schließt eine Beteiligung eigener staatlicher Stellen aus. Michailo Podoljak, ein enger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskyj, schrieb bei Twitter: „Die Ukraine hat nichts mit dem Vorfall in der Ostsee zu tun und auch keine Informationen über proukrainische Sabotagegruppen.“

Russland hat die Medienberichte zu den Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines als Ablenkungsmanöver zurückgewiesen. Es handele sich „eindeutig“ um „eine gut koordinierte Medienkampagne“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Russland machen britische oder amerikanische Geheimdienste für den Anschlag verantwortlich. Peskow kritisierte, dass Russland nicht an den Ermittlungen beteiligt werde. Präsident Putin sprach nach dem Anschlag von einem „Akt des internationalen Terrorismus“.

Was sagt die deutsche Politik?

Verteidigungsminister Boris Pistorius wollte nichts von einer „heißen Spur nach Kiew“ wissen: „Wir müssen jetzt mal abwarten, was sich davon wirklich bestätigt“, sagte er. Pistorius betonte im Deutschlandfunk, dass die Wahrscheinlichkeit einer „False-Flag-Aktion“ und einer proukrainischen Täterschaft „gleichermaßen hoch“ sei.

Innenpolitiker warnen ebenfalls vor voreiligen Schlüssen und Spekulationen. „Die Ermittlungsbehörden arbeiten derzeit mit Hochdruck daran, diesen Sabotageakt schnellstmöglich aufzuklären. In Rechtsstaaten ist es eine Selbstverständlichkeit, die Ergebnisse dieser Ermittlungen abzuwarten“, sagte der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Konstantin von Notz (Grüne), unserer Redaktion.

Auch Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU, verweist auf die Ermittlungen des Generalbundesanwalts und rät zur Vorsicht: „Außer weiteren Indizien scheinen bislang keine echten Beweise vorzuliegen.“ Nils Schmid, Außenexperte der SPD, sagte, man nehme die Berichte sehr ernst, gleichzeitig bleibe abzuwarten, „inwieweit sich diese bestätigen“.

Verteidigungsminister Boris Pistorius reagiert zurückhaltend auf die Nord-Stream-Berichte.
Verteidigungsminister Boris Pistorius reagiert zurückhaltend auf die Nord-Stream-Berichte. © Christian Charisius/dpa/Archiv

Was ist, wenn die Berichte stimmen?

Die westlichen Verbündeten der Ukraine werden sich auf alle Szenarien einstellen müssen. Sollte sich die aktuelle Spur als belastbar erweisen, wäre das eine schwere Hypothek für die Kriegsallianz gegen Russland – schon allein die jetzigen Spekulationen können im Westen eine Stimmung gegen die Unterstützung der Ukraine befeuern. Das gilt insbesondere dann, wenn die verdächtige Kommandogruppe doch Kontakte zum ukrainischen Geheimdienst SBU oder zum Militär gehabt haben sollte, was bislang bestritten wird. Experten waren bislang davon ausgegangen, dass nur staatliche Organisationen oder Streitkräfte zu einer solchen Kommando-Operation in der Lage wären.

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