Berlin. Philosoph Habermas hat sich zu Waffenlieferungen an die Ukraine geäußert. Ein Statement, das nicht allen Regierenden gefallen wird.

Erst 5000 Helme, dann Panzerfäuste, leichte Panzer, jetzt schwere Panzer – bald auch Kampfjets? Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat eine historisch einmalige Waffenlieferungskette in Gang gesetzt, mit der Deutschland den Freiheitskampf der Ukrainer unterstützt.

Die Hilfe ist vom Völkerrecht gedeckt und auch moralisch geboten. Niemand darf im Jahr 2023 Grenzen mit Gewalt verändern, ohne Wehrhaftigkeit zu spüren und zu riskieren, dass sich die internationale Staatengemeinschaft mit dem Opfer solidarisiert.

Habermas: Philosoph bricht ungeschriebenes Diskussionsverbot

Ein Jahr lang schraubt sich diese Spirale der Aufrüstung schon nach oben und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Er wird heftiger, immer mehr Menschen sterben. Reicht es da aus, immer mehr Waffen zu liefern und abzuwarten, wer gewinnt?

Diese Frage stellt jetzt der Philosoph Jürgen Habermas und bricht damit ein ungeschriebenes Diskussionsverbot. Endlich, kann man nur sagen. Es kann nicht sein, dass der Westen – aber auch andere Nationen und Großmächte – nur abwartet, ob die Ukraine mit Waffenlieferungen siegt oder untergeht.

Jörg Quoos, Chefredakteur der Zentralredaktion.
Jörg Quoos, Chefredakteur der Zentralredaktion. © Dirk Bruniecki

Es geht dabei nicht um Appeasement, sondern zum Beispiel um die Frage: Kommunizieren wir genug mit Russen, die bei einem Regimewechsel entscheidend sein können? Es ist natürlich richtig zu sagen, Wladimir Putin ist ein Kriegsverbrecher und hat sich als Verhandlungspartner disqualifiziert.

Aber mit wem in Russland arbeiten wir – vertraulich oder offen – an einer friedlichen, gemeinsamen Zukunft? Wer macht sich jetzt schon Gedanken über eine Friedensordnung für die Zeit nach dem Krieg? Die Debatte darüber ist unterentwickelt, da ist das Unwohlsein von Habermas berechtigt.

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Habermas: Es braucht mehr als nur Waffen

Und auch in einem weiteren Punkt gibt Habermas einen wichtigen Denkanstoß. Denn es gibt tatsächlich Sicherheitsin­teressen über die berechtigen Interessen der Ukraine hinaus. Sie sind genauso legitim wie die der überfallenen Ukrainer und müssen im Blick unserer politischen Führung sein.

Olaf Scholz wurde Zögerlichkeit und Versagen vorgeworfen, als er in zähen Verhandlungen eine internationale Allianz bei den Kampfpanzern schmiedete. Der Kanzler mag dabei kommunikativ versagt haben. Aber das Ergebnis gibt ihm recht und es beweist, dass sich Waffenlieferungen und vertieftes Nachdenken über ihre Folgen nicht ausschließen dürfen.

Es ist wohltuend, dass der weltweit geachtete Philosoph und Soziologe Habermas die Debatte viel klüger herleitet als Alice Schwarzer und Co., die nur Putins Hoffnung auf ein Ende der Solidarität schüren. Habermas hat die ganze Welt und nicht nur die Region im Blick. Er ist auch nicht gegen Waffenlieferungen, sondern mahnt an, dass es mehr als nur Waffen braucht. Dass mehr Waffen auch mehr Verantwortung für die Folgen dieses Krieges bedeuten.

Habermas-Denkanstoß war notwendig

Sein Weckruf beendet hoffentlich die Denkfaulheit, die sich nach einem Jahr Krieg im öffentlichen Diskurs bei einigen erschreckend breitgemacht hat. Habermas hadert als Intellektueller mit der Carte blanche für Tod und Zerstörung – und wir müssen für diesen Impuls dankbar sein. Er hat sicher nicht mit allem recht. Aber als geachteter Denker ist der Verstand seine mächtigste Waffe, und es ist sein gutes Recht, diese mal öffentlich durchzuladen.

Und wer den Professor als Putin-Versteher diskreditiert, der tut einem Mann unrecht, der im Frühjahr 1945 von den Nazis fast noch verheizt worden wäre. Er weiß mit seinen 93 Jahren wirklich, worum es für uns alle geht.

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