Berlin. Eine Ärztin und Krankenschwester aus der Ukraine erzählen, wie sie 2022 mit Krieg, Flucht und Neuanfang in Deutschland erlebt haben.

Auf der Station ist jedes Bett belegt. Die Abteilung für HNO und Kieferorthopädie behandelt alles, was am und im Kopf passiert. Mandelentzündungen, Tumore, Ohren. Die Pflegerinnen, Krankenschwestern und Ärztinnen im sechsten Stock des Bettenhauses des Charité Campus Benjamin Franklin in Berlins Westen laufen geschäftig über den Flur, von einem ins nächste Zimmer, sprechen mit Patienten, pflegen, untersuchen, lächeln. Eine Frau in diesem Team ist Oksana Bodnaruk. Sie verlässt gerade das Dienstzimmer, auf dem Tisch hinter ihr liegen Plätzchen, ein kleiner Weihnachtsbaum leuchtet.

Oksana Bodnaruk ist zur Zeit als Pflegekraft angestellt. Sie flüchtete im März vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland. Sie antwortet, auf die Frage, wie es ihr in Berlin geht: „Ich habe Glück.“ Ein Satz, hinter dem sich ein ganzes Jahr bangen, kämpfen, überleben und die Sorge um ihren Mann Vasyl verbirgt.

Krieg: 1.036.135 Ukrainer sind aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet

Oksana Bodnaruk ist eine von 1.036.135 Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland, die laut Bundesinnenministerium im Ausländerzentralregister registriert sind. Die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Den Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren ist seit der Generalmobilmachung die Ausreise verboten. Also auch Frau Bodnaruks Mann. Er ist 50 Jahre alt, gilt als Reservist und war vor dem Krieg Polizist, jetzt sichert er als Angestellter einer Firma die Stadt Czernowicz ab und sorgt für die innere Sicherheit.

Die Krankenschwester Oksana floh im März vor dem Ukraine-Krieg mit dem Bus nach Berlin. Wenn 48-Jährige an ihren zurückgelassenen Mann denkt, verdunkeln sich ihre braunen Augen zuerst, bis ihr dann die Tränen kommen.

Was hat die Krankenschwester aus der Ukraine in Deutschland erlebt?

Wir sind verabredet, darüber zu sprechen, wie ihr vergangenes Jahr war. Wie sich für sie Deutschland anfühlt – und wie es ihr heute geht. Sie sucht ein Besprechungszimmer, um in Ruhe zu erzählen. Später wird noch eine Ukrainerin hinzukommen. Die Psychiaterin Dr. Valentyna Mazhbits, auch sie floh im März, auch sie musste ihren Mann zurücklassen. Und so schlimm, wie der Grund auch ist, dass die beiden hier sind. Deutschland braucht die Ärztin und die Krankenschwester dringend, nicht erst seit der Corona-Pandemie ist der Pflegenotstand und Fachkräftemangel im Land spürbar geworden. Ein Problem, dass die Ampel-Koalition als eines ihrer wichtigsten Themen ansieht. Pflegekräfte sollen besseres Gehalt bekommen, eine neue Ausbildungsart wurde beschlossen, denn die Prognosen sind beängstigend. Der Barmer-Pflegereport kommt darauf, dass allein in der Pflege im Jahr 2030 zusätzlich 180.000 Vollzeitstellen benötigt werden.

Oksana Bodnaruk müsste man also den roten Teppich ausrollen, damit sie bleibt. Die Charité versucht mit einem Willkommen-Team, ihr zu helfen. Sogar eine Wohnung hat man bereits für sie gefunden. Denn bislang hat die Ukrainerin bei ihrer 25-jährigen Tochter gelebt. Die studiert schon seit Jahren Jura in Deutschland und war natürlich auch ein Grund, warum die Krankenschwester nach Berlin floh.

Hat man sie in Deutschland willkommen geheißen?

Wie blicken die beiden auf das Jahr 2022 zurück – und hat man sie in Deutschland willkommen geheißen?

Die Psychiaterin Valentyna Mazhbits und die Krankenschwester Oksana Bodnaruk vor dem Berliner Charité Campus Benjamin Franklin. Die deutsche Regierung setzt sich dafür ein, dass die beiden Fachkräfte in Deutschland bleiben können.
Die Psychiaterin Valentyna Mazhbits und die Krankenschwester Oksana Bodnaruk vor dem Berliner Charité Campus Benjamin Franklin. Die deutsche Regierung setzt sich dafür ein, dass die beiden Fachkräfte in Deutschland bleiben können. © FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Im Gang der Station spricht Oksana Bodnaruk kurz mit Stationsleiterin Kristin Schöbel. Es geht um ihre Unterlagen und Dokumente, die sie als Krankenschwester ausweisen. Vieles von dem muss übersetzt und offiziell beglaubigt werden. Sie hat schon alle Unterlagen beisammen. Alle Zeugnisse, Geburts- und Heiratsurkunde, auch ein Heft, ähnlich einem Pass, in dem man jede berufliche Station in der Ukraine einträgt. „Die Bürokratie in Deutschland ist schon Wahnsinn – aber notwendig“, sagt Schöbel. Oksana hofft, dass ihre Berufsqualifikation bald in Deutschland anerkannt wird. „Bei Oksana merkt man, dass sie eine richtige Krankenschwester ist“, versichert die Stationsschwester.

Und Oksana Bodnaruk nickt und lächelt. Sie freut sich über das Kompliment. Als junge Frau hat sie in der Ukraine eine Ausbildung als Hebamme gemacht, später in unterschiedlichen Kliniken in Czernowicz gearbeitet, zuletzt in einer HNO- und in einer Zahnarztpraxis als Krankenschwester. Oksana spricht schon gut Deutsch, sie hat bereits das Sprachniveau B1 erreicht, was so viel bedeutet, dass sie sich ganz gut unterhalten kann. B2, das Level, das sie benötigt, bräuchte sie auch, um an der Universität zu studieren. „Ich lerne noch Deutsch“, sagt Oksana.

In Deutschland angekommen, hatte sie zu allererst dieses Gefühl

Was war ihr erster Gedanke, als sie Deutschland erreicht hat? „Ich bin in Sicherheit, das dachte ich, und ich hoffe seit dem, das alles gut wird. Ich hoffe, das der Krieg nicht so lange dauern wird.“ Wieder stockt ihr die Stimme. Sie braucht es nicht auszusprechen, sie denkt in diesem Moment an ihren Mann Vasyl. Im Oktober war sie noch einmal in der Ukraine, um ihn zu sehen und noch fehlende Dokumente zu besorgen. Sie erzählt, dass es schwer war. Das Wiedersehen, aber auch das Wiedergehen. Nach dem Krieg möchte sie, dass auch ihr Mann nach Deutschland nachzieht. Auch wenn sie eine Wohnung, Freunde und ihre Schwiegereltern hinter sich lassen müssen. „Die Ukraine ist schon jetzt zerstört, alles wieder aufzubauen, wird Jahre brauchen“, sagt die Krankenschwester.

Ukraine-Krieg und die fatalen Folgen:

Im Besprechungszimmer kommt die Ärztin Dr. Valentyna Mazhbits hinzu, die beiden kennen sich. Beide erleben das gleiche Schicksal, aber sind doch sehr unterschiedlich. Während Oksana Bodnaruk besser Deutsch spricht, und erzählt, wie sehr sie ihren Mann vermisst, lässt Mazhbits ihre Gefühle öffentlich nicht zu. Die 46-Jährige spricht lieber über ihre Forschung. Danach gefragt, antwortet sie auf Englisch: „Meine Strategie ist es, zu arbeiten, nicht zu leiden.“ Aus rein professioneller Sicht habe sie keine Zeit zu verlieren. „Nichts ändert sich, wenn wir schwach sind“, sagt sie. Oksana lässt sich von ihr übersetzen, was sie gerade gesagt hat, und nickt dann zustimmend.

Die Psychiaterin Valentyna Mazhbits hilft auch Ukrainer von Berlin aus

Valentyna Mazhbits ist Psychiaterin, war in Kiew als Forscherin und Psychotherapeutin unter anderem am Ukrainian Research Institute of Psychiatry Ministry of Health und der Klinikkette Medikom Happy&Healthy tätig. Heute arbeitet sie an der Charité für das Projekt Solomiya. Die Psychotherapeuten und Psychologen von Solomiya bieten digitale Beratungen für Geflüchtete und Menschen in der Ukraine an, erklärt Mazhbits. Im Sommer besuchten Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundesinnenministerin Nancy Faeser die Charité, sprachen auch mit Bodnaruk und Mazhbits.

Heil sagte damals, dass 1500 Stellen und Behörden in dem Prozess involviert seien, geflüchtete Fachkräfte in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren. Es brauche schnelle Lösungen und gesetzliche Änderungen, um diesen Prozess zu beschleunigen. Schließlich seien die Menschen aus der Ukraine nicht nur willkommen, sondern „werden auch gebraucht“. Auf die Frage, wie es für sie war, dass sich zwei deutsche Minister für sie interessieren, antwortet Mazhbits: „Sehr freundlich“, dabei lacht sie.

Mazhbits ist sich bewusst, dass sie mit ihrer Ausbildung und Erfahrung eine begehrte Spitzenkraft ist. Eines habe sie der Krieg und der Neuanfang in Deutschland gelehrt: „Ich finde überall Arbeit und eine gute Anstellung.“ Damit ihr Doktortitel und ihr abgeschlossenes Medizinstudium in Deutschland anerkannt wird, braucht sie ihre Dokumente, hat sie alle Unterlagen, muss die Ärztekammer über die Fachärztin entscheiden.

Ihre größte Herausforderung im Alltag ist die deutsche Sprache

Auch im März reiste Valentyna Mazhbits mit dem Zug von Kiew nach Frankfurt. Mit ihren beiden Söhnen, damals noch 10 und 17 Jahre alt, zog sie in ein Flüchtlingshotel, eine Studienfreundin half ihr. Relativ schnell hatte sie neue Arbeit gefunden, auch die Stelle an der Berliner Charité. Das Willkommen-Team des Universitätsklinikums half auch ihr. Der ältere Sohn blieb in Frankfurt, weil er als IT-Experte schon eine Anstellung in einem Unternehmen gefunden hatte. Nur der kleinere ist noch bei ihr. Auch Valentyna Mazhbits hat ihren Mann zurücklassen müssen. Er ist IT-Systemadministrator und auch er darf nicht ausreisen. Zum Glück musste er bisher nicht an die Front.

Auf die Frage, wie es ihr am Anfang in Deutschland ging, sagt sie: „Ich habe mich nie allein gefühlt.“ Außerdem seien die Deutschen sehr herzlich, auch die zurückgenommene Art gefalle ihr. Selten werde jemand laut oder aggressiv. „So viele Menschen haben uns bisher geholfen, das möchte ich zurückgeben.“ Ihre größte Herausforderung sei die deutsche Sprache. Für die Anerkennung als Ärztin benötigt sie das Sprachniveau C1, fließend sprechen, komplizierte Texte verstehen. Dafür lernt sie, spricht aber noch lieber Englisch, um durch ihren Alltag in Deutschland zu kommen.

Kontakt mit der Heimat: Nur möglich wenn das Internet funktioniert

Jeden Tag habe sie Kontakt mit ihrem Mann über Chats oder Video-Telefonie. Aber dafür brauche er Strom und Internet, beides falle immer öfter in Kiew aus. „Mir reicht es schon, wenn ich weiß, dass das grüne Licht bei seinem Namen in der Telegram-App leuchtet. Dann weiß ich, er ist noch am Leben.“ Nur mit ihm werde sie weich. Nur zuhause erlaube sie sich, schwach zu sein.

Auf die Frage, was sie in ihrer Freizeit in Berlin mache, antwortet sie ein bisschen verwundert: „Ich arbeite eigentlich immer, auch mein Sohn muss viel lernen und kennt es nicht anders aus Kiew. Wir sind also beide, auch zuhause gut beschäftigt.“

Der Zehnjährige besucht eine internationale Schule in Berlin, lernt aber gleichzeitig noch für seine ukrainische Klasse. Auch wenn der digitale Unterricht wegen der schlechten Internetverbindung in Kiew nicht mehr stattfinden kann. Denn während die Krankenschwester Oksana nicht mehr zurückkehren möchte, hält sich die Ärztin Valentyna ihre Zukunft offen. „Wer weiß schon, was passiert?“ Sie glaube, der Krieg werde zwei, drei Jahre dauern, aber dann gehe sie vielleicht zurück. Sie habe schließlich alles gehabt in Kiew: eine schöne Wohnung, gute Jobs, Freunde und eine gute Familie.

Gibt es neben dem Wunsch den Ehemann bald wiederzusehen noch einen Wunsch oder etwas, was ihr in Deutschland fehle? „Ich träume davon, meinem Sohn ein E-Piano schenken zu können.“

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