Moskau. Die Rückschläge im Ukraine-Krieg machen Russlands Präsidenten angreifbar. Kritiker in Militär und Machtelite bringen sich in Stellung.

Die militärischen Misserfolge der letzten Zeit, die öffentliche Kritik an der Teilmobilisierung, die Massenflucht Tausender Reservisten ins Ausland – Russlands Präsident Wladimir Putin steht unter großem Druck. Trotzdem will er heute seinen 70. Geburtstag feiern. In seiner Heimatstadt St. Petersburg lässt er sich im prunkvollen Konstantinpalast von Staatsgästen hochleben.

Es sei ein „informeller Gipfel“ der Staatschefs der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow mit. Zuvor hatte er betont, dass Putin das Jubiläum arbeitend bei zahlreichen Terminen verbringen werde. Angesichts immer neuer Niederlagen bei seiner Invasion müsste er als Oberbefehlshaber wohl auch alle Hände voll zu tun haben. Die Niederlagen machen ihn angreifbar. Kritiker bringen sich in Stellung. Offenbar auch im Militär und in der Machtelite. Wer kann Putin jetzt gefährlich werden?

Die Putin Kritiker: Das Kadyrow-Prigoschin-Lager

Öffentlich voran geht als Kritiker der wortgewaltige Ramsan Kadyrow, Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Kadyrows Soldaten bilden einen Teil der Vorhut des russischen Militärs in der Ukraine. Bereits Mitte September, nach dem überhasteten Rückzug aus der ukrainischen Region Charkiw, meldete er sich zu Wort. „Wenn heute oder morgen keine Änderungen an der Strategie vorgenommen werden, werde ich gezwungen sein, der Führung des Verteidigungsministeriums und der Führung des Landes die tatsächliche Situation vor Ort zu erklären“, vermerkte Kadyrow auf Telegram, auch in Richtung Putin.

Ramsan Kadyrow, Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, führt seine gefürchteten Truppen an und spart nicht mit Kritik.
Ramsan Kadyrow, Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, führt seine gefürchteten Truppen an und spart nicht mit Kritik. © imago/ITAR-TASS | IMAGO/Yelena Afonina

Nach dem Rückzug aus Lyman, der nächsten Niederlage, kritisierte er nicht mehr nur Verteidigungsminister Sergej Schoigu, sondern auch den verantwortlichen russischen Befehlshaber Waleri Gerassimow. Der Generaloberst setze Soldaten ein, so Kadyrow, „versorgte sie jedoch nicht mit der erforderlichen Kommunikation, Interaktion und Munitionsversorgung“.

Putin beförderte Kadyrow nun zum Generaloberst. Doch der Tschetschenenführer spielt sein eigenes Spiel, genau wie der Jewgenij Prigoschin. Der Chef der berüchtigten Söldner-Gruppe „Wagner“ hat offen und wiederholt Kritik an Putin-Vertrauten geübt.

Die Macht der Masse: das russische Volk

Auch aus der Bevölkerung kommt zunehmend Kritik. Spürbar ist das auch in Moskau, vor allem unter jungen Menschen. Bis zur Verkündung der Teilmobilisierung russischer Reservisten war die „Spezialoperation“ in der Ukraine etwas, das weit weg war vom Leben der normalen Leuten.

Das ändere sich nun, meint der Soziologe Grigori Judin. Es gebe grundsätzlich drei Gruppen in der russischen Gesellschaft. Zum einen die Radikalen, die 15 bis 25 Prozent der Bevölkerung ausmachen. „Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft und eine aggressivere Kriegsführung.“ Dann die Nicht-Einverstandenen, die Opposition. Sie lehnen die „Spezialoperation“ grundsätzlich ab. Doch Medien, die diese Position vertreten, sind in Russland weitgehend zum Schweigen gebracht worden.

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65 Prozent der Bevölkerung will mit Politik nichts zu tun haben

Die weitaus größte Gruppe aber, so Judin, sei die entpolitisierte Mehrheit von etwa 65 Prozent der Bevölkerung, die mit Politik nichts zu tun haben will. „Sie sind diejenigen, die sorglos ihr Leben genießen, während in der Ukraine Menschen sterben. Das ist natürlich beklagenswert, doch die Kehrseite davon ist, dass sie auch keinesfalls gewillt sind, sich irgendwie selbst aktiv am Krieg zu beteiligen.“

Doch genau dies geschieht jetzt. Die Mobilisierung der Reservisten kann jeden treffen. Laut der kremlkritischen Online-Zeitung „Nowaja Gaseta“ hätten inzwischen mehr als 260.000 Russen das Land verlassen, aus Angst vor einer möglichen Einberufung. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow kann sich die Resonanz unter den Bürgern „nicht erklären“, die Reaktion sei „hysterisch und hochemotional“, so Peskow laut der regierungsnahen Nachrichtenagentur RIA Novosti.

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Die russische Intelligenz: Die Militärblogger und Eliten

Einerseits Ängste der unpolitischen Mehrheit, andererseits Militärblogger mit immer radikaleren Forderungen, dieser Spagat sei für Wladimir Putin gefährlich, so der Soziologe Judin. „Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein. Die ‚Radikalen‘ werden sie rundheraus als das bezeichnen, was sie ist. Und die ‚Laien‘ werden ihm nicht verzeihen, dass er ihr tägliches Leben in Mitleidenschaft gezogen hat.“ Judins Fazit: „Die militärische Niederlage in einem Krieg, bei dem er das ganze Land aufs Spiel gesetzt hat, wird Putin nicht überleben.“

Der Politologe Abbas Galljamow kennt den Kreml, ist Insider, er war dort Redenschreiber. „Putin ist heute der größte destabilisierende Faktor, ein Destabilisator“, meint Galljamow. Russlands Elite verliere nun ihren Halt, weil sie sich 22 Jahre auf Putin gestützt habe. Das sei vorbei.

Doch Galljamow sagt auch, dass Putins Ressourcen noch gewaltig seien – auch wegen der Ergebenheit des Sicherheitsapparats. Noch sitzt Putin fest im Sattel, auch wenn seine Beliebtheit leicht gesunken ist. Erstmals seit Beginn der „Spezialoperation“ sind seine Werte knapp unter 80 Prozent gefallen, so eine Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Levada.

Jedoch, so Galljamow, „Putin wird verstehen müssen, dass die Zeit, die ihm die Geschichte für die Wahl seines Nachfolgers eingeräumt hat, nicht unendlich ist. Je schwächer der Präsident in dem Moment sein wird, in dem er den Namen seines Nachfolgers bekannt gibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass einige Eliten ihm den Gehorsam verweigern.“

Putins potenzielle Nachfolger

Doch wer könnte ein möglicher Nachfolger sein? Die Opposition hofft auf Alexej Nawalny, einst der schärfste Widersacher von Russlands Präsident Wladimir Putin. Doch es ist still geworden um den Kremlkritiker. Neun Jahre muss er im Straflager bleiben, verurteilt wegen angeblichen Betrugs.

Kreml-Kritiker Alexej Nawalny.
Kreml-Kritiker Alexej Nawalny. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Alexander Zemlianichenko

Immer neue Anklagen und Strafverfahren drohen, seine Bewegung ist zerschlagen, seine Mitstreiter sind im Gefängnis oder ins Ausland vertrieben. Dennoch haben seine Verbündeten die Neuformierung eines Netzwerks von regierungskritischen Gruppen in ganz Russland angekündigt. Die Zeit sei reif, die Regierung sei durch den Krieg in der Ukraine geschwächt, hieß es.

Putins treuester Diener

Manche sehen Wjatscheslaw Wolodin als Kandidaten, die „graue Eminenz“. Er ist Vorsitzender des Staatsduma, Putins treuester Diener. Michail Mischustin könnte zumindest ein Interims-Präsident sein, der Ministerpräsident. Dmitri Medwedew könnte ein Kandidat sein, so Galljamow. Er war bereits einmal Präsident, als Putin nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren konnte. Ein weiterer Kandidat wäre Landwirtschaftsminister Dmitri Patruschew. Oder Denis Manturow, der Minister für Industrie und Handel. Und schließlich Sergej Sobjanin, Moskaus Bürgermeister. Er hat Corona-Pandemie gut gemeistert. Sein Nachteil, so Galljamow: Er sei „zu pragmatisch“.

Die Unbekannte in der Rechnung: die Oligarchen

Und, es gibt eine Unbekannte in der Rechnung: die russischen Oligarchen. Auch unter den Oligarchen gibt es Kritik an Putins „Spezialoperation“. So verurteilte der Banker Oleg Tinkoff öffentlich die russische Invasion: „Das ist undenkbar und inakzeptabel! Staaten sollten Geld für die Behandlung von Menschen ausgeben, nicht für Krieg.“ Wie werden sich die Oligarchen verhalten bei einem Machtwechsel? Kommen die Machtkämpfe der Oligarchen wieder zurück, wie in den 90er-Jahren? Viele in Russland erinnern sich an diese Zeit. Allein im Jahr 1994 wurden mehr als 600 Unternehmer, Politiker und Journalisten ermordet.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.