Cherson. Gennady Ofitsorov hat Angst um Sergey. Er wurde offenbar vom Geheimdienst entführt und nach Russland verschleppt. Kein Einzelschicksal.

Auf dem Freiheitsplatz in Cherson wirkt die Stimmung trotz des Kriegsdonners am Stadtrand gelöst. Vor knapp zwei Wochen haben die russischen Streitkräfte die Stadt im Süden der Ukraine verlassen. Passanten erzählen von der neuen Lage in Cherson. Vor dem mit Fahnen und Bildern behängten Denkmal in der Mitte des Platzes machen Paare lachend Selfies.

Plötzlich taucht ein Mann mit einem schwarzen Fischerhut auf, er hält sein Telefon in der Hand, blickt hadernd, schüchtern herüber. Schließlich gibt er sich einen Ruck. Gennady Ofitsorov erzählt die Geschichte seines Sohnes. Sergey ist von den russischen Besatzern entführt worden. Er ist einer von über 400 Menschen, die in den vergangenen Monaten in der Region Cherson verschwunden sind.

Im März rücken die russischen Streitkräfte in Cherson ein. Die Stadt fällt nahezu kampflos in die Hände der Besatzer, bis heute halten sich hartnäckig Gerüchte von Verrat. Die Russen errichten ein repressives Überwachungsregime, postieren Soldaten an zahlreichen Checkpoints, führen ständig Kontrollen durch, dringen in Häuser ein, nehmen immer wieder Menschen fest. Manche Bewohner Chersons kollaborieren mit ihnen. Die meisten versuchen, sich unauffällig zu verhalten.

Ukraine-Krieg: Immer wieder sind die Einschläge der Geschosse zu hören

Andere, das sind diejenigen, die die Besatzer ausfindig machen wollen, schließen sich dem Widerstand an. Möglicherweise war Sergey Ofitserov, 46, einer von ihnen. Seit dem 3. August ist er verschwunden. An diesem Tag dringen drei Männer in Zivil in das Appartement Nummer 29 an der Kozatskyi-Straße ein. Hier lebt Gennady Ofitsorov, sein Sohn ist zu Besuch. „Sie haben ihm Handschellen angelegt, mich haben sie nicht befragt. Sie haben auch nicht die Wohnung durchsucht. Es wirkte so, als hätten sie ihn ganz gezielt gesucht, sagt sein Vater an diesem kalten, bewölkten Novembertag.

Er versucht, während des Gespräches, konzentriert zu bleiben, die Fassung zu wahren. Immer wieder dröhnen vom östlichen Stadtrand die Schüsse der ukrainischen Artillerie, die Einschläge russischer Geschosse. Gennady Ofitsorov interessiert das nicht, er ist auf einer Mission. Er will seinen Sohn wiederfinden. Mit zitternden Händen zeigt er in seinem Telefon eine Liste, in der er aufgeführt hat, wo er überall in den vergangenen Monaten war, um eine Spur von Sergey zu finden.

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Ukraine: Die Entführer fahren in einem Renault Duster davon

Als die drei Männer seinen Sohn aus der Wohnung führen, fahren sie ihn in einem Renault Duster davon, Kennzeichen BT 1701OA. In den Wochen danach klappert Gennady eine Polizeistation nach der anderen ab. Es heißt, Sergey sei in einem der Folterzentren gelandet, in denen die Besatzer Menschen verhören. „Man hat mir gesagt, er würde verdächtigt, die ukrainischen Streitkräfte mit Informationen zu versorgen.“ Irgendwann hört Gennady, sein Sohn sei auf der Krim. Es sind Monate enormer Anspannung, nicht nur, weil Sergey verschwunden ist. „Jedes Mal, wenn ich das Haus verlassen hatte, hatte ich Angst, nicht mehr zurückzukommen.“ Er hat Angst, dass ihn die Besatzer auch entführen.

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Ende Oktober erhält er schließlich einen Anruf aus Moskau. Am Telefon ist eine Anwältin. Sie sagt ihm, sein Sohn brauche frische, warme Kleidung. Er trage noch immer die Shorts, in denen er verhaftet worden sei. Ihm solle in Moskau der Prozess gemacht werden. Der Vorwurf: Terror. Vor dem Krieg hat Sergey in einer Möbelfabrik gearbeitet, erzählt sein Vater auf dem Freiheitsplatz. „Er war beliebt, hatte viele Freunde, er ist einfach ein guter Junge.“ Das Telefon in seiner Hand zittert, seine Stimme bricht, er wendet sich ab und schluchzt leise. Wir verabreden uns noch einmal in seiner Wohnung.

Das Bild von Sergey und seiner Schwester hat Genadiy Ofitserov zu Hause in Cherson an seinem Kühlschrank hängen.
Das Bild von Sergey und seiner Schwester hat Genadiy Ofitserov zu Hause in Cherson an seinem Kühlschrank hängen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Es gibt eine Liste mit 422 Entführten allein aus der Region Cherson

Wolodymyr Zhdanow ist in der Militär- und Zivilverwaltung von Cherson zuständig für die Fälle von Menschen, die während der russischen Besatzung verschleppt worden sind. „Wir suchen Menschen, die aufgrund besonderer Umstände, so nennt man das, entführt wurden“, berichtet Zhdanow Anfang Dezember am Telefon. Die Behörden nehmen die Aussagen von Angehörigen auf, die sich direkt an sie wenden, sie haben eine Hotline eingerichtet und durchforsten die sozialen Medien. „Insgesamt gibt es nach unseren Listen 422 Fälle von Entführungen in der Region“, sagt Zhdanow. Sergey Gennady steht noch nicht darauf.

Von den 422 Entführten seien mittlerweile 166 wieder freigelassen worden, berichtet Zhdanow. Drei seien nach bestätigten Informationen tot. Die Regionalverwaltung selbst könne nicht nach den Verschwundenen suchen. „Das machen die zuständigen Behörden. Wir sammeln, systematisieren und aktualisieren die Informationen.“

Außerdem versucht die Regionalverwaltung herauszufinden, ob die Angehörigen Unterstützung brauchen, psychologisch, humanitär, finanziell oder sozial. „Wir haben jetzt eine Koordinierungszentrale eröffnet, um den Gefangenen und ihren Familien zu helfen. Dazu gehören die Polizei, die Staatsanwaltschaft, der Geheimdienst SBU, Vertreter der lokalen Behörden und das Militär.“

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In Sergeys altem Kinderzimmer steht sein rotes Fahrrad

Zudem wollen Zhdanow und seine Leute den Verschwundenen mit der Hilfe von Medien oder Hilfsorganisationen auf die Spur kommen oder sie unterstützen. „Wir wissen, dass manche in Simferopol sind.“ Das ist die Hauptstadt der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim. „Einige von ihnen sind offiziell wegen Terrorismus angeklagt worden.“ Denen versuche man zu helfen, indem man Geld für vertrauenswürdige Anwälte organisiere. Wieder andere seien aber entführt worden, ohne dass die Russen das offiziell einräumten.

Einige Stunden nach dem Treffen mit Gennady Ofitsorov auf dem Freiheitsplatz sitzt er in seiner kalten Wohnung an der Kosatzkyi-Straße. Drei Zimmer, rustikal eingerichtet, ein Wandteppich, eine Tapete mit aufgedruckten Weihnachtsbäumen, eine Schrankwand mit Buchenfurnier.

Auf dem Kühlschrank in der Küche hat er Bilder angeheftet. Sergey und seine Schwester, beide lachen. Die Enkel, die Kinder der Schwester. Im alten Kinderzimmer stehen auf einem Bord Modelle von Schiffen und Flugzeugen, an einer Wand lehnt an rotes Fahrrad. „Damit ist Sergey im August gekommen, als er mich besucht hat“, erzählt der 68-Jährige.

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Vater und Sohn trinken an jenem 3. August gerade Tee zusammen, als es an der Tür hämmert. Gennady öffnet, die drei Unbekannten stürmen hinein. Sie herrschen Sergey an, fragen ihn nach dem Code seines Mobiltelefons, nehmen ihn mit. „Ich weiß bis heute nicht, wer sie waren“, sagt der Vater. Er vermutet: FSB, russischer Geheimdienst. Was genau seinem Sohn vorgeworfen wird, weiß er auch nicht. Möglich, dass er Informationen ans ukrainische Militär weitergegeben hat. „Er ist ein Patriot.“ Gennady hat auch mitbekommen, dass Sergey Brandflaschen vorbereitet hat, als die Besatzung begann. „Ob er sie benutzt hat, weiß ich aber nicht.“

Gennady Ofitsorov sagt an diesem kalten Novembernachmittag, er wolle in Cherson bleiben, obwohl es dort kein fließendes Wasser, keinen Strom gibt. „Ich muss meinen Sohn finden. Jeden Morgen spreche ich mit Gott.“ Wenige Tage später meldet sich die Regionalverwaltung bei ihm. Sie nehmen Sergey Ofitsorov in die Liste der Entführten auf. Er ist die Nummer 423.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja