Erfurt/Berlin. Proteste formieren sich, die Warnungen vor großen Schäden für den Osten sind schrill. Ist Ostdeutschland wirklich härter getroffen?

Die Warnungen der letzten Wochen klangen drastisch: Von einem „Tsunami“ war da die Rede, der auf die Wirtschaft zukomme, von Russland-Sanktionen, die den Osten „kaputt machen“ würden, von einer „Deindustrialisierung“ ganzer Landstriche gar. Politiker von CDU und Linke, Vertreter der Industrie waren zu hören, die im Chor davor warnten, dass vor allem der Osten zu leiden habe unter der Energiekrise und den Auswirkungen der Sanktionen, die gegen Russland verhängt wurden.

Aber stimmt das eigentlich? Wird der Osten tatsächlich härter getroffen?

Mehr als 30 Jahre nach der deutschen Einheit gibt es – trotz einer jahrzehntelangen Aufholjagd – noch immer Unterschiede in den wirtschaftlichen Strukturen von Ost und West. Kein Dax-Konzern hat seinen Hauptsitz in Ostdeutschland, pro Kopf liegt die Wirtschaftskraft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, bei rund 80 Prozent des gesamtdeutschen Schnitts. Die Löhne, die Renten, die Vermögen, alle sind sie niedriger in den ostdeutschen Bundesländern. Die Reserven sind kleiner.

Das wirkt sich auch in der aktuellen Krise aus, sagen Vertreter der Wirtschaft. „Die Ausschläge sind im Osten größer“, sagt Andreas Jahn, Leiter der Abteilung Politik beim Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW). Dass Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern, nur noch eine Schicht fahren oder nur noch montags bis donnerstags produzieren, dass höre der Verband aus Ostdeutschland öfter als aus anderen Teilen der Republik, sagt Jahn.

Energiekrise: „Finanzielle Resilienz im Osten geringer“

„Im Osten ist die finanzielle Resilienz geringer“, erklärt er. Westdeutsche Familienunternehmen etwa hätten andere Rücklagen und durch oft jahrzehntelange Beziehungen zu Hausbanken auch andere Zugänge zu Finanzierung in schwierigen Zeiten. Im Osten dagegen hätten viele Inhaber schon während Corona aus den Reserven für die eigene Altersvorsorge geschöpft. „Das Risiko für bleibende Schäden ist größer“, sagt der Mittelstandsvertreter.

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Doch die unterschiedlichen Strukturen tragen auch dazu bei, die ostdeutsche Wirtschaft widerstandsfähiger zu machen gegen Schocks von außen, sagt Oliver Holtemöller, stellvertretender Chef des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Er sieht Ostdeutschland nicht besonders betroffen – im Gegenteil.

„Es ist bei jedem außenwirtschaftlich getriebenen Schock so, dass da Ostdeutschland besser durchkommt.“ Dies liege vor allem daran, dass die Anteile der Beschäftigten im öffentlichen Dienst sowie der Rentner deutlich höher seien als im Westen. Im Ergebnis seien nicht so viele Menschen von wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Unternehmen betroffen.

Holtemöller sieht auch keine höhere Gasabhängigkeit der ostdeutschen Unternehmen und Privathaushalte. „Möglicherweise wäre bei einer Mangellage beim Öl der Osten stärker betroffen, aber die ist derzeit bis auf dem Ausnahmefall Schwedt nicht zu erkennen“, sagt er. Die Zukunft der PCK-Raffinerie in Schwedt, die der Bund im September unter treuhänderische Verwaltung gestellt hatte, ist derzeit ungewiss.

Darüber hinaus nimmt er keine gesonderten Auswirkungen auf den Osten wahr, mit einer Ausnahme: „Der Bäcker um die Ecke oder andere Unternehmen können die höheren Preise in einer westdeutschen Großstadt leichter an die Kunden weitergeben als etwa auf dem ostdeutschen Land.“ Unterm Strich sehe er aber nicht, warum ostdeutsche Unternehmen in dieser Krise stärker belastet würden.

Inflation: Beschäftigte im Niedriglohnsektor haben kaum Reserven

Dazu passt, dass laut Bundeswirtschaftsministerium die Quote der ostdeutschen Unternehmen, die Hilfe aus dem Energiekostendämpfungsprogramm des Bundes bekommen, „etwa der bundesweiten Bewilligungsquote“ entspricht, wie ein Sprecher sagt. Gemessen daran ist die Lage für Betriebe in Ostdeutschland derzeit nicht riskanter als im Rest der Republik.

Doch die aktuelle Krise trifft in den ostdeutschen Bundesländern auf Menschen, denen die Erfahrungen der harten 1990er-Jahre noch deutlich in Erinnerung sind, und ihre Folgen noch spürbar. Carsten Schneider, Ostbeauftragter der Bundesregierung, verweist darauf, dass vor allem Menschen im Niedriglohnsektor kaum Möglichkeiten haben, Inflation und eskalierende Energiepreise abzufedern – und dieser Sektor ist Osten wesentlich größer als im Westen.

„Da ist nichts mehr mit ‚Pulli anziehen‘“, sagt Schneider unserer Redaktion im Hinblick auf Energiespartipps, die in den letzten Monaten immer wieder zu hören waren, „der Pulli ist schon an.“

Und dort, wo finanzielle Spielräume da sind und die Auftragsbücher voll, sagt der SPD-Politiker, löse schon die Aussicht darauf, dass sich das ändern könnte, schwere Erschütterungen aus. Es gebe eine Angst, „dass bald alles, was man sich gerade erst aufgebaut hat, weg sein könnte“, sagt Schneider. Das mache den Leuten große Sorgen.

In Magdeburg, Schwerin, Dresden wird in diesen Wochen demonstriert

Die Bundesregierung, sagt er, habe viel auf den Weg gebracht, um den Leuten diese Sorgen zumindest ein Stück weit zu nehmen. Doch er hat Zweifel, ob das so kommuniziert worden ist, dass es ankommt. „Wir könnten es noch entschiedener vertreten. Da hat der vielstimmige Chor aus den letzten Wochen sicher nicht geholfen.“

Nicht zuletzt die Angst vor größeren sozialen Verwerfungen hat die Bemühungen der Ampel-Koalition angetrieben, zumindest die größten Härten abzufedern. In Berlin schauen viele aufmerksam bis besorgt auf die neue Welle von Protesten, die sich mit der Energiekrise in Ostdeutschland aufgebaut hat. In Schwerin, in Dresden, in Magdeburg gehen sie in diesen Wochen wieder auf die Straße.

Handwerker, die mehr Hilfe gegen die Energiepreise fordern, laufen dabei neben Rechtsextremen, die in der Krise die Chance sehen, anzuknüpfen an ihre erfolgreiche Mobilisierung aus der Corona-Zeit, Linke und Rechte versuchen gleichermaßen, die Monate vor dem Energiekrisen-Winter zu einem „heißen Herbst“ zu machen. Und neben Rufen nach mehr Entlastungen stehen auf den Demonstrationen immer wieder auch Forderungen, die Russland-Sanktionen zu beenden oder gleich der Rücktritt der Regierung.

Allein mit einer möglichen höheren Verwundbarkeit der ostdeutschen Wirtschaft, sagen Experten, lässt diese Gemengelage nicht erklären. Dass die Straßenproteste hier häufiger und radikaler sind, „dahinter steht eher ein grundsätzliches Systemmisstrauen in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft“, sagt Raj Kollmorgen, Soziologieprofessor an der Hochschule Zittau-Görlitz.

„Die Erfahrungen in der DDR addieren sich mit den nicht eingelösten Versprechen und den enttäuschten Erwartungen nach dem Umbruch und der Vereinigung.“

Soziologe Kollmorgen: Gefühle, „die bis zu Traumatisierungen reichen“

Die Ostdeutschen, sagt der Soziologe, hätten am Ende der Diktatur, aber eben auch in der Transformation etwas erlebt, das sie als Staatsversagen empfanden. „Sie verarbeiten die Transformation mit Gefühlen, die bis zu Traumatisierungen reichen.“ Sie empfänden daher Wandel häufiger als Bedrohung, nach dem Motto: „Das wollen wir nicht noch einmal erleben.“

Auf der anderen Seite gibt es aber laut Kollmorgen auch soziale Gruppen, die schon in der DDR oder in der ersten Vereinigungsphase dem Mangel produktiv begegnet seien. Sie habe die Transformationserfahrung „resilienter, vielleicht sogar innovativer“ gemacht.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.