Berlin. Holger Schäfer ist Arbeitsmarkt-Experte beim Institut der deutschen Wirtschaft. Im Interview kritisiert er das geplante Bürgergeld.

Das Ende von Hartz IV ist eingeläutet. Zum 1. Januar 2023 will die Bundesregierung das Arbeitslosengeld II durch ein sogenanntes Bürgergeld ersetzen. Geplant sind neben einer Erhöhung der Regelsätze auch Änderungen bei der Vermögensprüfung und die Einführung einer sogenannten Vertrauenszeit.

Doch für die Bürgergeld-Pläne gibt es nicht nur Lob. Auch Holger Schäfer, Wirtschaftswissenschaftler und Arbeitsmarkt-Experte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), übt Kritik. Im Interview stellt er klar, wo er noch Reformbedarf sieht. Mehr zum Thema: Hartz IV und Bürgergeld im Vergleich – Das sind die Unterschiede

Herr Schäfer, die Bundesregierung will Hartz IV abschaffen und durch ein sogenanntes Bürgergeld ersetzten. Wie bewerten Sie diesen Schritt?
Holger Schäfer: In den Plänen ist einiges enthalten, was ich okay finde. Vieles sehe ich aber auch kritisch. Dazu gehören vor allem die Vertrauenszeit, die Karenzzeit und die Neuregelung der Erwerbsfreibeträge. Da hat man nicht reformiert, was man hätte reformieren müssen.

Gehen wir ihre Kritikpunkte der Reihe nach durch: Was stört Sie bei der Vertrauenszeit?
Schäfer: Es ist unser Verständnis von Sozialstaat, dass diejenigen, die sich nicht selbst helfen können, einen Anspruch auf die Hilfe der Gesellschaft haben. Dafür schuldet der Empfänger nichts, außer das Bemühen, künftig ohne diese Hilfe auszukommen. Das ist eine Form von Geben und Nehmen, die die meisten Menschen gerecht finden. Und ich denke, dass die temporäre Aussetzung von Sanktionen dazu beiträgt, dieses Verhältnis von Geben und Nehmen zu stören.

Inwiefern?
Schäfer: Es ist dadurch eher ein Nehmen und weniger ein Geben. Natürlich gibt es weiterhin Sanktionen. Aber sie sind eingeschränkt und werden nicht mehr dieselbe Wirkung entfalten, wie bisher. Es gibt sehr viele Studien, die zeigen, dass Sanktionen so wirken, wie sie sollen. Das heißt: Die Sanktionierten integrieren sich schneller wieder in den Arbeitsmarkt.

Sanktionen haben auch Nebenwirkungen, das will ich nicht verschweigen. Es gibt Menschen, die sich durch sie komplett vom Arbeitsmarkt zurückziehen und dann für die Integrationsbemühungen der Jobcenter nicht mehr zur Verfügung stehen. Aber insgesamt gibt es einen positiven Wiedereingliederungseffekt. Und das nicht nur bei den Wenigen, gegen die Sanktionen verhängt werden, sondern auch bei allen anderen Empfängern. Einfach, weil sie wissen, es kann eine Sanktion geben. Wen ich die aber aussetze, gehen diese Effekte verloren.

Also sollten wir Sanktionen wie bisher beibehalten?
Schäfer: Ich glaube, dass wir durch die Vertrauenszeit ein falsches Signal aussenden. Wir signalisieren den Hilfeempfängern, sie könnten sich Zeit lassen, erstmal ankommen und sich einrichten. Aber wir haben es mit Menschen zu tun, die oftmals schon eine ganze Weile arbeitslos sind. Da geht es um jeden Tag. Da geht es darum, unmittelbar den Sprung zurück in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Und es muss von Anfang an klar sein, dass die Empfänger einen Job haben: sich um Unabhängigkeit von Transferleistungen zu bemühen. Mit der Vertrauenszeit signalisiert man genau das Gegenteil. Mehr zum Thema: Hartz-IV-Studie zeigt: Sanktionen verpuffen – Folgen für das Bürgergeld?

Gehen wir weg von den Sanktionen. Was ist ihre Kritik an der Karenzzeit?
Schäfer: Das betrifft ja zum einen die Vermögensprüfung und zum anderen die Kosten für die Unterkunft. In erster Linie ist das eine Frage der Gerechtigkeit. Diejenigen, die das Bürgergeld mit ihren Steuern finanzieren und deshalb kein Vermögen bilden oder sich keine große Wohnung leisten können, zahlen dann für Menschen, die gegebenenfalls in einer größeren Wohnung wohnen oder über ein größeres Vermögen verfügen. Das dürften die wenigsten Menschen für gerecht halten.

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Beim Vermögen vermisse ich außerdem eine Begründung, warum man das Schonvermögen, wie es bisher besteht, für zu niedrig erachtet. Es gibt ja jetzt schon beträchtliches Vermögen, was nicht anrechenbar ist. Da kommt man für ein Paar von jeweils 50 Jahren auf ein Schonvermögen von 90.000 Euro, plus gefördertes Altersvorsorgevermögen, also zum Beispiel Riester, und eine selbstbewohnte, angemessene Immobilie. Das sind Größenordnungen, die in den Bereich mittlerer Vermögen hineinreichen. Einen Reformbedarf sehe ich da nicht.

Zum nächsten Punkt: Die Neuregelung des Erwerbsfreibetrags...
Schäfer: Genau. Man hat ja die Möglichkeit, Erwerbseinkommen mit Arbeitslosengeld II zu kombinieren. Der Grund: Es gibt Leute, die arbeiten und ein Einkommen haben, was nicht ausreicht, um ihren Grundbedarf zu decken. Da wird dann aufgestockt. Aber eben nicht nur auf den Bedarf an sich. Wer arbeitet und aufstockt, hat am Ende mehr als derjenige, der gar nicht arbeitet. Das ist so eine Art Anreizinstrument, was ja im Grundsatz eine vernünftige Idee ist.

Nun ist der Erwerbsfreibetrag aktuell aber so gestaltet, dass er die Aufnahme einer geringfügigen oder Teilzeitbeschäftigung begünstigt. Wer einen Minijob und hat und im Monat 200 oder 300 Euro verdient, kann sein Arbeitslosengeld II damit durchaus nennenswert aufstocken. Er bekommt zwar etwas abgezogen, aber nicht so viel. Aufstockern in Vollzeit wird dagegen relativ viel abgezogen – prozentual viel mehr als jemand mit einem Minijob.

Ein Vollzeit-Job ist daher für viele unattraktiv, weil das zusätzliche Einkommen sehr gering ausfällt. Das ist aktuell zum Teil weniger als ein Euro pro Stunde. Wenn man einen Minijob hat und dann die Möglichkeit bekommt, in Vollzeit zu arbeiten, lohnt sich das fast gar nicht. Da fehlt dann schlicht der Anreiz. Das ist ein Problem, das ausschließlich am Erwerbsfreibetrag liegt. Diese Fehlanreize, die es da im aktuellen System gibt, werden von der geplanten Reform aber fast überhaupt nicht berücksichtigt. Lesen Sie auch: Hartz IV wird zum Bürgergeld – Bundeskabinett beschließt Reform

Wie könnte ein Lösungsansatz aussehen?
Schäfer: Es gibt Vorschläge zur Reform des Erwerbsfreibetrages, unter anderem vom IW oder dem ifo. Diese Vorschläge verfolgen alle das Prinzip, den Freibetrag in den unteren Einkommensbereichen zu senken. Minijobs würden sich dann kaum oder gar nicht mehr lohnen. Den gewonnenen Spielraum könnte man aber nutzen, um den Erwerbsfreibetrag bei höheren Einkommen, etwa wenn jemand einen Vollzeit-Job hat, zu erhöhen. Und zwar so, dass es sich dann wirklich lohnt, in Vollzeit zu arbeiten. Das ist die Reform, die ich für richtig halten würde, die jetzt aber zunächst nicht angegangen wird.

Holger Schäfer ist Arbeitsmarkt-Experte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Holger Schäfer ist Arbeitsmarkt-Experte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW). © Institut der deutschen Wirtschaft | Institut der deutschen Wirtschaft

Aus der Opposition gibt es die Kritik, dass durch das Bürgergeld für manche Menschen der Anreiz zu Arbeiten wegfällt. Macht es Deutschland Menschen ohne Job zu einfach?
Schäfer: Man sollte die Frage stellen, ob es sich für Menschen lohnt, zu arbeiten. Unser System stellt sicher, dass jeder, der arbeitet und ein Einkommen hat, bessergestellt ist als jemand ohne Job. Selbst, wenn jemand sehr wenig verdient, ist das so. Denn in der Regel haben diese Personen dann Anspruch auf Transferleistungen, etwa auf Wohngeld. Ob der Anreiz groß genug ist, ist eine andere Frage.

Die Bundesregierung will beim Bürgergeld verstärkt auf Weiterbildungen setzen, etwa durch ein Weiterbildungsgeld. Halten Sie das für den richtigen Schritt?
Schäfer: Ob das der richtige Schritt ist, muss irgendwann die Evaluation zeigen. Das kann man vorab schwer beurteilen. Aber ich halte es für richtig, das zu versuchen. Und die Maßnahmen, die man ergriffen hat, halte ich nicht für komplett falsch. Gerade, weil wir ja aus der Arbeitsmarktforschung wissen, dass Qualifiktationsdefizite ein Vermittlungshemmnis sind.

Ob das dann klappt, ist eine andere Frage. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass jeder Bürgergeld-Empfänger sehnsüchtig darauf wartet, eine Weiterbildung machen zu dürfen. Manche wollen einfach nicht. Man kann die Leute zwar zwingen, aber das wird keinen Erfolg haben.

Kann der Fokus auf Weiterbildungen für Deutschland eine Chance im Kampf gegen den Fachkräftemangel sein?
Schäfer: Ich halte es für unrealistisch, dass man alle Langzeitarbeitslosen zu Fachkräften macht, die dann unsere Lücken am Arbeitsmarkt füllen. Wenn etwa Informatiker gefragt sind, wird man den arbeitslosen Krabbenpuler nicht dazu umschulen können. Zumindest nicht jeden. Das sind ja Menschen und keine Masse, die man irgendwie hin- und herschieben kann. Die haben ihre eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen. Insofern glaube ich nicht, dass er sich nennenswert auf den Fachkräftemangel auswirken wird.

Mit den Plänen für das Bürgergeld scheint das Ende von Hartz IV besiegelt zu sein. Wie fällt ihr Fazit aus?
Schäfer: Hartz IV stand von Anfang an stark in der Kritik. Ich glaube aber, dass es ein großer Fortschritt gegenüber dem war, was wir davor hatten. Das System hat große Defizite, die jetzt aber teilweise auch bis ins Bürgergeld weitergetragen werden. Und das Bürgergeld ist ja auch keine komplette Abkehr von Hartz IV, sondern eine Weiterentwicklung – wenn auch nicht unbedingt in die richtige Richtung. Es heißt anders und ich verstehe, dass die SPD und die Grünen gerne für sich in Anspruch nehmen, das gänzlich neu konzipiert zu haben. Aber im Grunde ist es eher eine Evolution.

Wir könnten in Zukunft unsere Ressourcen aber noch viel effektiver einsetzen, wenn wir zum Beispiel mehr pauschalieren würden. Es wäre sinnvoll, vom Ziel der Einzelfallgerechtigkeit wegzugehen. Die kann man sowieso nicht erreichen. Es macht keinen Sinn, wenn Menschen Geld für eine Waschmaschine oder einen Wintermantel extra beantragen müssen. Damit sollten sich die Mitarbeiter in den Jobcentern gar nicht beschäftigen. Ihre Aufgabe sollte es sein, sich darum zu kümmern, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Da ginge noch deutlich mehr.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.