Berlin. Das Bürgergeld wird das Hartz-IV-System ablösen. Es ist die größte Sozialreform seit Jahren. Experten warnen die Regierung vor Fehlern.

  • Zum 1. Januar soll das Bürgergeld Hartz IV ersetzen
  • Am Mittwoch hat das Bundeskabinett das Bürgergeld beschlossen
  • Experten warnen bereits vor Fehlern beim neuen Bürgergeld

Das neue Bürgergeld von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gilt als die größte Sozialreform seit knapp zwei Jahrzehnten. Zum 1. Januar wird das Bürgergeld das Hartz-IV-System ablösen, die Bundesregierung sieht darin einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung von Menschen mit geringen Einkommen gegen die hohen Preissteigerungen. Das Bundeskabinett hat die Neuerung am Mittwoch offiziell beschlossen. Auch Sozialverbände, Wirtschaftsexperten und Branchenverbände erwarten eine wichtige Weichenstellung – und warnen die Regierung vor Fehlern. Manchen gehen die Pläne viel zu weit, anderen nicht weit genug.

Hartz IV wird Bürgergeld: Was ist geplant?

Der Arbeitsminister will das von vielen Betroffenen als stigmatisierend empfundene Hartz-IV-System abschaffen. Zu den Grundpfeilern der Neuregelung gehören höhere Regelsätze, eine Lockerung der Sanktionen und mehr finanzielle Freiheiten für die Bezieher der Sozialleistung. So wird Erspartes künftig nicht so schnell angetastet und Betroffene sollen sich erst einmal keine Sorgen machen müssen, ob ihre Wohnung zu groß ist und sie umziehen müssen. Anstatt schneller Vermittlung in offene Hilfsjobs sollen Aus- und Weiterbildung im Mittelpunkt stehen. Heil nennt seine Pläne eine „umfassende Sozialreform“.

Wie hoch soll das Bürgergeld ausfallen?

Aktuell beträgt der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen 449 Euro im Monat. Aus dem unserer Redaktion vorliegenden Gesetzesentwurf geht hervor, dass Heil den Regelsatz zum 1. Januar auf 502 Euro anheben will. Hinzu kommen Wohn- und Heizkosten. Für volljährige Partner soll es einen Regelsatz von 451 Euro im Monat geben. Für Kinder im Alter von 14 bis 17 Jahren sind 420 Euro vorgesehen. Für 6- bis 13-Jährige sollen es 348 Euro, für bis zu 5-Jährige 318 Euro sein.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sieht in dem neuen Bürgergeld eine „umfassende Sozialreform“.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sieht in dem neuen Bürgergeld eine „umfassende Sozialreform“. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Es sei gut, dass nun das Bürgergeld komme, sagte die Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD), Michaela Engelmeier, unserer Redaktion. „Von der angestrebten Höhe des Bürgergeldes ist der SoVD allerdings enttäuscht.“ Sie forderte 650 Euro ab dem 1. Januar und 100 Euro sofort für den Übergang. „Denn die Betroffenen leiden schon jetzt unter explodierenden Preisen und einer immer weiter steigenden Inflation.“ Die Regelsätze gerade für Kinder reichten nicht aus. „Wir brauchen die Kindergrundsicherung - und zwar so schnell wie möglich.“

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Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands Ulrich Schneider sagte, angesichts der Inflation sei die Erhöhung des Regelsatzes um gut 50 Euro ein „schlechter Witz. Schneider zitierte aus einer am Montag vorgestellten Studie zur Wirkung des bisherigen Hartz-IV-Systems, nach der fast die Hälfte der befragten Haushalte nicht mit den Hartz-IV-Zahlungen auskommt. Sie müssten mit Essensspenden über die Runden kommen oder sich Geld leihen, etwa um Energierechnungen zu bezahlen. „Die Menschen werden in die Verschuldung reingetrieben, weil Hartz IV definitiv nicht reicht“, sagte Schneider.

Die Inflation könnte die Erhöhung der Regelsätze schon bald wieder auffressen.
Die Inflation könnte die Erhöhung der Regelsätze schon bald wieder auffressen. © dpa | Friso Gentsch

Bürgergeld: Wie wird die Inflation ausgeglichen?

Sozialverbände kritisieren, dass die regelmäßige Neuberechnung der Regelsätze den Preissteigerungen hinterherhinke und eine Anhebung von der Inflation aufgefressen werde. Heils Gesetzesentwurf sieht daher vor, dass neben der zurückliegenden Entwicklung von Löhnen und Preisen auch die zu erwartende Inflation im Jahr der Anpassung miteinbezogen wird. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW), hält die Methode aber noch nicht für ausreichend.

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Der geplante Sprung der Regelsätze entspreche einer Anhebung um etwa elf Prozent, sagte Fratzscher. Es sei in diesem Jahr aber eine Inflation von knapp zehn Prozent zu erwarten, im kommenden Jahr betrage die Rate vermutlich noch einmal acht Prozent. Diese Schieflage könne eine „soziale Katastrophe“ auslösen, warnte der Wirtschaftsexperte. Die Bundesregierung müsse mit der Anpassung der Sätze noch stärker in die Zukunft schauen, kritisierte Fratzscher.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) warnt vor einer sozialen Schieflage.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) warnt vor einer sozialen Schieflage. © epd | Christian Ditsch

Bürgergeld: Was wird aus den Sanktionen?

Heil will eine sechsmonatige Vertrauenszeit einführen, in der bei Versäumnissen keine Sanktionen drohen. Danach sind bei Verstößen gegen die Auflagen der Jobcenter Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent vorgesehen. Helena Steinhaus, Gründerin der Initiative Sanktionsfrei e.V., kritisiert, dass es überhaupt noch die Strafe geben solle, „existenzsichernde Leistungen unter das Minimum zu kürzen“.

Sanktionen hätten nicht die beabsichtigte Wirkung, Menschen in Arbeit zu bringen. „Die stärkste Wirkung, die von Sanktionen ausgeht, ist Einschüchterung und Stigmatisierung“, sagte Steinhaus am Montag und berief sich dabei auf eine von Sanktionsfrei in Auftrag gegebene Studie, für die das Forschungsinstitut INES in einem Zeitraum von drei Jahren 585 zufällig ausgewählte Hartz-IV-Bezieher befragt hatte.

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Dieser Einschätzung widerspricht der Arbeitsmarktökonom Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). „Wir haben eine sehr eindeutige Studienlage hinsichtlich der Sanktionen: Es ist eindeutig nachgewiesen, dass die Sanktionen in der Regel eine schnellere Eingliederung in den Arbeitsmarkt bewirken“, sagte Schäfer unserer Redaktion. Die sechsmonatige Vertrauenszeit hinsichtlich der Sanktionen sei daher problematisch. „Bisher sollte die Grundsicherung denen helfen, die sich nicht selbst helfen können. Das wird durch diese Karenzzeit aufgeweicht.“

Wie lautet die Kritik der Wirtschaft an den Bürgergeld-Plänen?

Die Reform sorgt nach Ansicht von Wirtschaftsverbänden vor allem dafür, dass der Anreiz zur Arbeitssuche sinkt. „Die Verbesserungen für die Bezieher beim Schonvermögen, der Wegfall von Sanktionen, die deutliche Anhebung des Regelsatzes, die komplette Übernahme der stark gestiegenen Heizkosten – all das wird dazu führen, dass sich für mehr Menschen als bisher das Nichtarbeiten mehr lohnt als das Arbeiten“, sagte Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer der „Rheinischen Post“. Auch der Wirtschaftsexperte Schäfer sieht die Karenzzeit bei der Anrechnung von Vermögen und bei den Kosten der Unterkunft kritisch.

„Das führt dazu, dass manche Bezieher von Bürgergeld besser gestellt sind, als manche Menschen, die arbeiten und diese Sozialleistung so mit ihren Steuergeldern finanzieren. Das ist eine Gerechtigkeitsfrage“, sagte der IW-Ökonom. Ebenso wie mit der Vertrauenszeit für Sanktionen werde damit ein „fatales Signal“ gesetzt: „Nämlich, dass sich Menschen in der Grundsicherung erst einmal Zeit lassen können. Nichts wäre falscher als das.“ Jeder Tag außerhalb des Arbeitsmarkts sei für die Betroffenen schlecht und schadet ihren Chancen, eines Tages wieder ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu gestalten.

Hartz IV wird Bürgergeld: Wie geht es weiter?

Heil hofft auf einen Kabinettsbeschluss am Mittwoch. Dafür müssten aber in allen Punkten Einigkeit mit den Koalitionspartnern bestehen. Bisher sah vor allem die FDP einige Punkte des Konzepts kritisch. Danach müssen auch noch Bundestag und Bundesrat zustimmen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.