Berlin. Gesundheitsminister Karl Lauterbach warnte vor 400 bis 500 Corona-Toten pro Tag. Wie kommt er dazu? Seine Berechnung im Realitätscheck.

Gerade hatte er noch einen "Super-Sommer" vorausgesagt, da fällt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in den vertrauten Alarmmodus zurück. Weil er vor bis zu 500 Coronatoten pro Tag gewarnt hatte, nennt ihn Hamburgs CDU-Chef Christoph Ploß in der "Bild" einen "Angstminister". Das wären doppelt so viele Tote, wie am Donnerstag vom Robert Koch-Institut (RKI) gemeldet (238) wurde.

Seit Lauterbach die 500er-Zahl am Dienstagabend im ZDF-"heute journal" in den Raum stellte, reißt die Kritik nicht ab. Lauterbach ist gerade bei einem EU-Treffen in Lyon. Auf Anfrage unserer Redaktion erklärte aber sein Ministerium, "die Modellierungen des RKI zeigen deutlich, dass rasant steigende Inzidenzen auch die Zahl der täglich zu beklagenden Todesfälle ansteigen lässt". Das sei die Grundlage für die Aussage im "heute journal“ gewesen.

Israel: Lauterbach mahnt beim Blick in den Nahen Osten

Der Anlass für Lauterbachs Warnung war Israel, für ihn offenbar ein abschreckendes Beispiel. Denn das Land lockert die Corona-Auflagen trotz eines Höchststandes an Infizierten auf Intensivstationen.

Auf Twitter erklärte sich Lauterbach die Entwicklung damit, dass dort noch immer zu viele Ältere ungeimpft seien – wie in Deutschland. Israels riskante Vorgehensweise sei denn auch kein Vorbild: "Ich warne davor, dass wir zu früh zu öffnen." In diesem Zusammenhang erwähnte er die 400 bis 500 Toten am Tag.

Lauterbachs Warnung: So könnte es tatsächlich zu dem Szenario kommen

Dazu könnte es tatsächlich kommen, wenn "die Inzidenzen im Peak über 3.500 bis 4.000 liegen", erläuterte Thorsten Lehr, Pharmazie-Professor an der Universität des Saarlands. Er leitet einen Covid-19-Simulator und hat sich mit seinen Modellrechnungen bundesweit einen Namen gemacht. Auch interessant: Eltern in Sorge: Wie sicher sind Lolli-Tests wirklich?

So hat Lehr im Januar den Scheitelpunkt der Omikronwelle für Mitte Februar mit einer Rate der Neuinfektionen pro Woche auf 100.000 Einwohner zwischen 2.000 und 3.000 vorausgesagt. An diesem Donnerstag lag die Inzidenz bei 1465. Lehrs Untergrenze – die 2000er Marke – könnte schon erreicht werden, wenn am 16. Februar die Ministerpräsidenten der Bundesländer mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zusammenkommen. Diese Zahl müsste sich aber noch einmal verdoppeln – erst dann würde Lauterbachs Worst Case eintreten. Verdoppelt man die Inzidenz, verdoppelt sich auch die Zahl der Toten.

Lauterbach ist pessimistischer als Modellierer Lehr

Auffällig ist, dass Lauterbach den Modellierer aus dem Saarland übertrumpft. Fast zeitgleich mit Lehr hatte er öffentlich vor möglicherweise 400.000 Neuinfektionen Mitte Februar gewarnt. Und selbst die waren offenkundig eine optimistische Variante. Laut dem Portal "The Pioneer" hatte er in einer Schaltkonferenz mit den Staatskanzleichefs der Länder sogar vor 600.000 Neuinfektionen am Tag gewarnt. Mehr zum Thema: “Maischberger”: Virologe Streeck widerspricht Lauterbach

Nur Bedrohungsszenarien "ins Blaue hinein"?

Lauterbachs 500 Tote am Tage sind also ein "Worst-Case-Szenario". Es könnte nach Lage der Dinge nur eintreten, wenn die Omikron-Welle sich auch über Mitte Februar hinaus weiter auftürmt und wenn Bund und Länder radikal die Corona-Auflagen aufgeben würden. Viele Wenns.

Solche "Bedrohungsszenarien ins Blaue hinein", wie es das Ethikrats-Mitglied Stephan Rixen nennt, stoßen zunehmend auf Unverständnis. Bei den Unionsparteien ist die Kritik nur rollengerecht, schließlich sind sie die Speerspitze der Opposition im Bundestag. Lesen Sie auch: Corona-Warn-App: Kein PCR-Test mehr nach roter Warnung

Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) dringt auf Lockerungen der Corona-Auflagen ungeachtet der Warnungen von Gesundheitsminister Lauterbach.
Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) dringt auf Lockerungen der Corona-Auflagen ungeachtet der Warnungen von Gesundheitsminister Lauterbach.

FDP wittert einen Vorwand, um Auflagen nicht zu lockern

Aber auch im Regierungslager regt sich Kritik, genauer gesagt: bei der FDP. Ihr Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki hält es für "bemerkenswert", dass das Ziel der Corona-Maßnahmen plötzlich verschoben werde. Lesen Sie hier: Sollten Ungeimpfte ihre Corona-Behandlung selbst bezahlen?

Was er damit meint: Bisher wurden die Auflagen damit begründet, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems vermieden werden müsste. Die ist bislang nicht eingetreten. Wird nun ein möglicher Anstieg der Todeszahlen als Rechtfertigung dafür herangezogen, nicht so zu lockern wie viele andere Staaten?

Dieser Artikel ist zuerst auf morgenpost.de erschienen.