Berlin. Die Linke galt lange als ostdeutsche Interessenvertretung. Doch sie erreicht die Menschen offenbar nicht mehr. Anders als die AfD.

Zwei Szenen einer Bundestagswahl: Zweieinhalb Stunden, nachdem die ersten Hochrechnungen über die Bildschirme gelaufen sind, herrscht im Festsaal Kreuzberg, wo die Linkspartei ihre Wahlparty abhält, gähnende Leere. Ein paar wenige Unerschrockene stoßen im Nebenraum und angrenzenden Biergarten noch auf das recht stabile Ergebnis bei der Berliner Senatswahl an. Doch der Frust sitzt tief. Die Parteispitze hat die Party verlassen. Die Linke schafft es bei der Bundestagswahl nicht einmal über die Fünf-Prozent-Hürde.

Zweite Szene, online: Björn Höcke bringt sich in Stellung, die Wahlergebnisse sind schon ein paar Stunden öffentlich. „Wir waren sehr erfolgreich, Thüringen steht!“, schreibt der völkische Nationalist Höcke am Wahlabend auf Facebook. Und dann formuliert er einen Satz, der fast wie eine Androhung klingt. Klingen soll. „Es werden Fragen zu stellen sein und es müssen Antworten gegeben werden.“

AfD gewinnt in zwei ostdeutschen Bundesländern

Es ist ein Satz, mit dem der radikale Flügel der AfD und dessen Kopf bereits ihren Machtanspruch in der Partei formulieren. Höcke weiß, das Ergebnis seiner Partei bei der Bundestagswahl war sehr gut. Allerdings nur im Osten. Nur dort, wo die selbsternannte „Alternative“ ihre Hochburgen hat. Wo sie stramm rechts ist.

In Thüringen, dort wo noch ein linker Ministerpräsident Bodo Ramelow regiert, wird die rechte AfD stärkste Kraft. Der Osten – einst dunkelrot gefärbt – wird blauer. Auch in Sachsen holt die AfD Platz 1, vor CDU und SPD. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt ist sie stark, allerdings nicht vorne.

AfD profitiert von der Schwäche der anderen Parteien

Dabei ist es nicht unbedingt die Stärke der AfD, die zu dem Sieg im Osten führt, sondern die Schwäche der anderen Parteien. Die AfD verliert bei den Zweitstimmen sogar etliche Tausende Wählerinnen und Wähler im Vergleich zur Wahl 2017, in Sachsen sind es diesmal fast 70.000 weniger.

„Die AfD inszeniert sich als große Gewinnerin im Osten. Das trifft so klar nicht zu“, sagt auch der Rechtsextremismusforscher und Soziologe Matthias Quent im Gespräch mit unserer Redaktion. „Union und SPD, aber auch Grüne, Linke und FDP schaffen es im Osten nicht, Menschen zur Wahl zu mobilisieren. Das ist im Westen Deutschlands anders.“

Wählerschaft ist vom rechten Kurs überzeugt

Und doch färbt sich die politische Landkarte im Osten blau. Es sind Ergebnisse, die maximal konträr zu den Stimmenanteilen der rechten Partei in den westdeutschen Bundesländern stehen, wo die AfD meist irgendwo zwischen fünf und acht Prozent bekommt. Im Westen gibt sich die AfD öfter gemäßigt, will bürgerliche Milieus nicht verschrecken. Es ist das Lager um Bundessprecher Jörg Meuthen, das im Westen punkten will. Doch nach der Bundestagswahl gerät dieses Lager unter Druck. Höcke hat das erkannt.

Doch wo einst die Linke aus Tradition und später die AfD noch aus Protest gegen die „etablierten Parteien“ gewählt wurde, verfestigt sich nach Ansicht von Fachleuten eine Stammwählerschaft der AfD im Osten, die nicht gering ist.

Und die von dem rechten Kurs der Partei überzeugt ist. Quent sagt: „Die Partei bedient die Angst vor dem Klimawandel, der Migration und dem sozialen Abstieg mit klar ausformulierten Feindbildern.“ So definiere der Höcke-Flügel die soziale Frage zu einer nationalen, ja zu einer ethischen Frage um, sagt der Forscher. „Und auch das Gefühl der Ungleichbehandlung ist im Osten noch immer stark verbreitet.“

AfD profitiert von Corona-Politik

In dem Wahlprogramm bediente die AfD die radikalen wie die gemäßigten Anhänger, forderte den Austritt aus der EU und Grenzzäune gegen Migranten, setzte sich zugleich für bessere Pflege ein, will Väter in der Familie stärken. Die AfD plakatierte „Deutschland, aber normal“ – und schoss zugleich öffentlich in teilweise hetzerischen Tönen gegen die Bundesregierung, gegen Asylsuchende, gegen Klimaschützer.

Vor allem ein Thema scheint nach Angaben von AfD-Politikern im Osten verfangen zu haben. „In der Pandemie hat uns geholfen, dass wir uns gegen überzogene Maßnahmen der Regierung gestellt und für die Freiheit und Grundrechte gekämpft haben“, sagt Rolf Weigand, AfD-Abgeordneter aus Sachsen. Der Osten reagiere auf die „Corona-Politik der Bundesregierung sensibel, denn die Menschen haben viele Jahre DDR-Unrechtsgeschichte erlebt. Das wiederholt sich jetzt.“

Der Satz von Weigand ist ein gutes Beispiel, wie die Partei einerseits Sorgen der Menschen ansprechen will, andererseits populistisch überzieht und so auf Stimmen im radikalen Milieu fischt. Weigands AfD in Sachsen ist vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft. Das aber scheint weder die Anhängerschaft noch die Führungsfiguren der Partei einzuschränken in ihrem Status als „Volkspartei“, den die AfD anstrebt.

AfD führt bei jüngsten Wählerinnen und Wählern im Osten

Während die AfD im Westen bei den jüngsten Wählerinnen und Wählern auf dem letzten Platz liegt, ist sie in Sachsen und Thüringen bei der jungen Zielgruppe laut Untersuchungen vorne. Die politische Kultur des Ostens, geprägt von 40 Jahren DDR-Diktatur und befeuert durch Parolen der AfD, sie wächst nicht raus – sie verstetigt sich. Und damit auch das Ressentiment.

Der Umgang mit dem Ergebnis spaltet allerdings auch die Partei, die seit Monaten einen offenen Machtkampf an der Spitze ausficht. Die AfD-Spitzenkandidaten Tino Chrupalla und Alice Weidel werten das Ergebnis der Partei als Erfolg.

Die AfD als „Partei des Ostens“ – der Co-Chef Meuthen (aus dem Westen) warnt dagegen davor. Am Tag nach der Wahl sagt er auf einer Pressekonferenz in Berlin: „Das Schicksal der Linkspartei ist, dass sie sich völlig auf den Osten fokussiert hat – und sie sind unter fünf Prozent gelandet.“ Dieser Fokussierung dürfe die AfD nicht folgen.

Der AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen ist gegen eine zu starke Fokussierung auf den Osten.
Der AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen ist gegen eine zu starke Fokussierung auf den Osten. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Linke zieht nur dank Grundmandatsklausel ins Parlament ein

Wenn Meuthen diese Sätze spricht, hat er die 4,9 Prozent der Deutschen im Kopf, die noch die Linke gewählt haben. Befürchtet hatten viele in der Partei, dass es schlimm werden könnte, doch am Wahlabend saß der Schock dennoch tief. Dass es linke Politikerinnen und Politiker überhaupt im Bundestag sitzen, verdanken sie einer Sonderregelung im deutschen Wahlrecht: der Grundmandatsklausel.

Gewinnt eine Partei drei Direktmandate, darf sie in Fraktionsstärke in das Parlament einziehen – wo sie allerdings nicht mehr als Fraktion, sondern nur noch als Gruppe gilt. Am Ende hat die Linke exakt die drei nötigen Direktmandate zusammen: Der frühere Parteichef Gregor Gysi und die Fraktions-Vize Gesine Lötzsch konnten in zwei Berliner Wahlkreisen triumphieren, Sören Pellmann verteidigte sein Direktmandat in Leipzig.

Selbst im Osten ist die Linke kaum noch gefragt

Neben dem eigenen Wahlergebnis schmerzt die Linkspartei aber auch der Blick auf die bundesweite Wahlkarte: Der Osten ist blau eingefärbt. 16 Direktmandate gingen an die AfD. Schon vor vier Jahren waren die Rechtspopulisten hauchdünn in Sachsen stärkste Kraft vor der CDU geworden.

Durch die Schwäche der Christdemokraten hat die AfD ihren Vorsprung nun sogar noch ausgebaut, auch wenn sie selbst leichte Verluste hinnehmen musste. Auch im vom Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow regierten Thüringen hat sich die AfD zur stärksten Kraft aufgeschwungen.

Linke sieht sich als Partei der Ostinteressen

Dabei ist es die Linke, die sich selbst als ostdeutsche Interessenvertretung versteht. „Wir waren in der letzten Legislaturperiode die Partei, die das Thema nicht aufgerufen hat, sondern konkrete Vorschläge gemacht hat“, sagte Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch am Montag in der Bundespressekonferenz. Man sei die Partei der Ostinteressen, sagte Bartsch. Zugleich musste er aber konstatieren. „Am Ende entscheiden es die Wählerinnen und Wähler.“

Und die fühlen sich offenbar immer stärker von der AfD als von der Linken vertreten. Nur in Berlin konnte die Linke mit 11,4 Prozent sich noch drei Prozentpunkte vor die AfD schieben. Ansonsten ist die AfD der Linken weit enteilt. In Mecklenburg-Vorpommern holte die AfD 18 Prozent, die Linke nur 11,1 Prozent. In Sachsen-Anhalt liegt die AfD mit 19,6 Prozent sogar zehn Prozentpunkte vor der Linken. Auch in Sachsen wurde die Linke nicht einmal mehr zweistellig, holte 9,3 Prozent. Die AfD ist mit 24,6 Prozent außer Reichweite.

Hennig-Wellsow: „Verstehen Ergebnis als letzte Chance“

Besonders schmerzen dürfte die Linke aber der Blick nach Thüringen. Ihr Ministerpräsident Bodo Ramelow genießt nach wie vor hohe Beliebtheitswerte, die AfD wird in Thüringen vom Verfassungsschutz beobachtet. Und trotzdem ist das Bild bei der Bundestagswahl eindeutig. Nur 11,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler gab der Linken ihre Stimme, bei der AfD waren es 24,0 Prozent.

Bei der Linken beginnt am Tag nach dem Debakel die Fehlersuche. „Es ist das letzte Blaue Auge, das wir uns abgeholt haben“, sagt Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow. „Wir verstehen das Ergebnis als letzte Chance, um unsere Partei nach vorne zu entwickeln.“

Erlebten ein Debakel: Die Parteichefinnen Susanne Hennig-Wellsow (vorne) und Janine Wissler (im Hintergrund) konnten die Linke nicht aus den mauen Umfragen herausführen.
Erlebten ein Debakel: Die Parteichefinnen Susanne Hennig-Wellsow (vorne) und Janine Wissler (im Hintergrund) konnten die Linke nicht aus den mauen Umfragen herausführen. © dpa | Fabian Sommer

Bei der Linken kommt alles auf den Prüfstand

Alles kommt bei der Linken nun auf den Prüfstand. Das Programm, die Ausrichtung – vielleicht sogar das Personal. Denn die erst im Februar gewählte Parteispitze um Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow konnte nicht verfangen.

Laut dem Wahlforschungsinstitut Infratest dimap fanden 70 Prozent der Deutschen, dass die Linke keine überzeugenden Führungspersonen mehr habe. Selbst knapp jeder zweite Linken-Wähler teilte diese Auffassung. „Wir sind die Bundesvorsitzenden der Partei und natürlich tragen wir die Verantwortung dafür“, stellte Hennig-Wellsow klar. Das bedeute aber nicht, dass sie nun ihre Ämter niederlegen würden. „Das schlechteste, was wir jetzt machen können, ist uns vom Acker zu machen.“

Sahra Wagenknecht polarisiert mit Kritik

Personalquerelen werden die Linke dennoch beschäftigten. Denn mit der krachenden Wahlniederlage rückt unweigerlich die frühere Fraktionschefin Sahra Wagenknecht wieder in den Fokus. Die 52-Jährige hatte im Frühjahr ein Buch veröffentlicht, in dem sie ihrer Partei vorwarf, zur „Lifestyle-Linken“ geworden zu sein, die sich zu weit von den einfachen Leuten entfernt habe.

Am Wahlabend untermauerte sie ihre Kritik. Noch immer hat Wagenknecht Strahlkraft, ihr Wort hat Gewicht. In der eigenen Partei ist sie bei vielen unbeliebt, ihre realpolitischen Ansichten sind vielen in der Partei ein Dorn im Auge. Selbst ein Parteiausschlussverfahren musste Wagenknecht im Zuge des Buches über sich ergehen lassen.

Die frühere Fraktionschefin der Linken, Sahra Wagenknecht, trat als Spitzenkandidatin für Nordrhein-Westfalen an und holte dort 3,7 Prozent.
Die frühere Fraktionschefin der Linken, Sahra Wagenknecht, trat als Spitzenkandidatin für Nordrhein-Westfalen an und holte dort 3,7 Prozent. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Linke fühlt sich „zerrieben“ zwischen SPD und Grünen

„Mit Sicherheit war es ein Faktor, dass wir nicht geschlossen aufgetreten sind“, sagte Bartsch zum schlechten Wahlergebnis. Angesprochen auf Sahra Wagenknecht ist die Stimmung an der Parteispitze am Montag aber unterkühlt. Sie habe mit Wagenknecht am Wahlabend gesprochen, sagte Hennig-Wellsow. Leider habe Wagenknecht als Spitzenkandidatin von Nordrhein-Westfalen auch nur 3,7 Prozent geholt, sagte Bartsch. „Wir werden gemeinsam für die Stärkung der Linken kämpfen.“

Das wird die Linke aus der Opposition heraustun müssen. Für ein von der Linken angestrebtes Bündnis mit SPD und Grünen gibt es keine Mehrheit. Ein Blick auf die Wählerwanderung zeigt: Die Linke hat massiv Stimmen an Grüne und SPD verloren. „Die Linke wurde als kleine Partei zerrieben“, sagte Hennig-Wellsow. Die Frage nach der Kanzlerschaft habe Stimmen gekostet. Die sogenannte Rote-Socken-Kampagne der Union als Warnung vor einem Linksbündnis ebenfalls.

Wie aber sieht es mit den eigenen Positionen ab, etwa zur Abschaffung der NATO? „Mein Eindruck ist, dass das Thema Außenpolitik nicht wahlentscheidend war“, sagte Spitzenkandidatin Janine Wissler. Und Wagenknechts Vorwurf, dass sich die Debatten zu oft um Fragen wie der korrekten Verwendung des Gendersternchens drehen würden? „Ich habe in keiner einzigen Wahlkampfrede über Gendersternchen gesprochen“, sagte Wissler. Dass die Linke als „Lifestyle-Linke“ agiert habe, sei „Quatsch“ sprang ihr Bartsch bei.