Berlin. Das Rätseln um die Verantwortlichen für die Nord-Stream-2-Sprengungen geht weiter. Wer hatte genug Motive, Mittel und Gelegenheit?

Joe Biden hat es gesagt. Der US-Präsident hat offen gedroht, die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 mit eigenen Machtmitteln zu verhindern. „Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird es das Projekt nicht mehr geben“, erklärte Biden kurz vor der Invasion. Und auf eine Nachfrage gab er zu Protokoll: „Ich kann Ihnen versichern, dass wir dazu in der Lage sein werden.“

Der Kreml zitiert diese Sätze immer wieder, seit unbekannte Täter die Nord-Stream-Pipelines 1 und 2 im September 2022 gesprengt haben. Drei der vier Gasröhren auf dem Grund der Ostsee sind zerstört. Nun jedoch erhöht Moskau den Druck. Im UN-Sicherheitsrat will Russland internationale Ermittlungen durchsetzen.

Sprengung von Nord Stream 2: Behörden schweigen über Ermittlungen

Die USA und ihre Partner sind im „Fall Nord Stream“ sichtlich in der Defensive. Zumal die Hoheit über die Untersuchungen im Westen liegt. Da die Sprengungen in dänischen und schwedischen Gewässern erfolgten, sind Kopenhagen und Stockholm zuständig. Auch die Bundesanwaltschaft ermittelt. Ergebnisse? Streng geheim.

Vor allem die schwedischen Behörden hüllen sich in eisernes Schweigen, was die Spekulationen weiter anheizt. Als sicher gilt, dass es sich um Sabotage handelte. Wegen des Aufwands kommt nur ein staatlicher Akteur als Verursacher in Frage. In dieser Lage stieß zuletzt eine Recherche des renommierten US-Reporters Seymour Hersh auf starke Resonanz. Demnach sollen US-Marinetaucher im Juni die Nato-Übung „Baltops 22“ genutzt haben, um Sprengladungen an den Pipelines anzubringen. Drei Monate später sei die Fernzündung erfolgt.

Spekulationen über mögliche Verursacher

Die US-Regierung weist dies als „frei erfunden“ zurück. Zweifel weckt der Bericht auch, weil Hersh sich nur auf eine anonyme Quelle stützt. Als Goldstandard im investigativen Journalismus gelten mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen. Seriös lässt sich daher im „Fall Nord Stream“ derzeit kein Täter benennen. Wer sich mit dem Nichtwissen nicht abfinden will, muss sich in den Bereich der Spekulation begeben. Immerhin lässt sich aber die klassische Frage jeder Kriminalermittlung stellen: Wer hatte Motiv, Mittel und Gelegenheit?

Zu den entschiedensten Gegnern von Nord Stream gehörten von Anfang an die Ukraine, Polen und die baltischen Staaten. Sie verloren Transiteinnahmen und fürchteten Erpressung: Russland konnte ihnen das Gas abdrehen und den lukrativen Westen über die neuen Pipelines weiter beliefern.

Fachleute halten es allerdings für unwahrscheinlich, dass diese Staaten in der Lage wären, in der engmaschig überwachten Ostsee eine derart komplexe Spezialoperation auszuführen und sie geheim zu halten. Ben Hodges, ehemaliger Oberkommandierender der US-Armee in Europa, ist überzeugt: „So etwas kommt am Ende immer heraus.“ Und das gelte auch für eine Beteiligung der USA.

USA, Norwegen und Schweden unter einer Decke: Sprengung durch die US-Marine?

Ein solches Szenario hatte Hersh entworfen. Demnach soll die US-Marine von Basen in Norwegen mit Wissen der Regierung in Oslo gehandelt haben. Unter dem Deckmantel des Baltops-Manövers.

Der frühere Nato-General Erhard Bühler hält das für abwegig: „Diese Übung wird in einem gemeinsamen Hauptquartier geführt. Da sitzen auch Deutsche drin.“ Es sei bei 16 Marinen mit 47 Schiffen nicht vorstellbar, dass eine US-Operation den Augen der Nato-Partner verborgen bliebe. Der Hinweis auf das Bündnis führt zur zentralen Frage nach den Motiven: Warum hätte Biden einen Anschlag befehlen sollen?

Aus geostrategischen und ökonomischen Interessen, lautet die naheliegende Antwort. Demnach hätten die Vorteile alle Nachteile überwogen: die Hilfe für die Ukraine und die Partner im Osten, der Schlag gegen den russischen Gazprom-Konzern und der Profit für die eigene Wirtschaft. Schließlich drängte Washington seit Jahren besonders Deutschland zum Bau von LNG-Terminals, um eigenes Gas verkaufen zu können.

Auch der angebliche Mittäter Norwegen ist Energieexporteur. Allerdings war Nord Stream 1 im September 2022 faktisch außer Betrieb, weil Gazprom im Krieg den Hahn zudrehte. Nord Stream 2 galt seit der russischen Invasion als politisch tot. Und die Bundesregierung hatte längst den Weg für LNG-Importe geebnet.

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Kein Grund für US-Beteiligung am Sabotage-Akt

Die wichtigsten Motive der USA waren zum Zeitpunkt des Anschlags also entfallen. Hinzu kommt: Biden tat nach seinem Amtsantritt alles, um die westliche Allianz nach den Chaosjahren unter Donald Trump zu stärken. Bis heute gilt es als sein größter außenpolitischer Erfolg, die Nato vor dem russischen Überfall auf die Ukraine zusammengeschweißt zu haben.

An Nord Stream wiederum sind Unternehmen aus Deutschland, Frankreich, Österreich und den Niederlanden beteiligt. Ein Angriff auf die Pipelines hätte im äußersten Fall also nicht nur die Röhren gesprengt, sondern auch das transatlantische Bündnis. Und das in Kriegszeiten.

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Sprengung der Nord-Stream-Piplines: War es doch Russland?

Der Zeitpunkt der Explosion ist aber noch aus anderen Gründen aufschlussreich. Nur fünf Tage vor dem Anschlag, am 21. September, verkündete Wladimir Putin eine Teilmobilmachung. Am 30. September annektierte der russische Präsident vier ukrainische Regionen - eine Art zweiter Kriegserklärung.

Dmitri Medwedew, einer der engsten Vertrauten des Kremlchefs, fasste es kurz vor der Pipelinesprengung in die Formel: „Russland hat seinen Weg gewählt. Es gibt kein Zurück.“ Hat also die Führung in Moskau die eigenen Gasröhren zerstören lassen, um alle Brücken nach Westen abzubrechen?

Es gibt kaum Zweifel, dass Russland Mittel und Gelegenheit für den Anschlag hatte. Als wahrscheinlichste Variante gilt, dass während der Verlegearbeiten von Nord Stream 2 Sprengmaterial angebracht wurde. 2021, als Putin seine Truppen an den Grenzen zur Ukraine aufmarschieren ließ, übernahmen russische Spezialschiffe den Einsatz in der Ostsee.

Weniger klar ist dagegen die Motivlage. Der Kreml habe die Energiemärkte in Chaos stürzen wollen, um den Gaspreis in die Höhe zu treiben, sagen die einen. Andere Fachleute halten eine Drohgebärde für wahrscheinlicher. Die Botschaft: „Seht her, wir sind jederzeit in der Lage, eure kritische Infrastruktur anzugreifen.“

Keine Hinweise auf Sprengung durch Kreml-Hardliner

Reicht das als Motiv für eine Sprengung eigener Pipelines? Plausibler erscheint die Annahme, dass der Anschlag eine interne Machtdemonstration von Hardlinern im Kreml gewesen sein könnte. Denn in russischen Wirtschaftskreisen wuchs im Sommer 2022 der Unmut über die Konfrontation mit dem Westen.

Die Pipelinesprengung raubte dieser Fraktion eine wichtige Perspektive. Allerdings haben US-Geheimdienste laut einer umfangreichen Recherche der „Washington Post“ bislang keine belastbaren Indizien gefunden, die auf eine russische Täterschaft hindeuten. Das Rätsel um die Nord-Stream-Sprengungen – es muss daher vorerst ungelöst bleiben.