Berlin . Ein Ende der Seeblockade ist nicht absehbar. In ukrainischen Häfen liegen Schiffe und Crews fest. Sie werden zu Putins Faustpfand.

Russland bietet an, für die Sicherheit von Getreideexporten aus der Ukraine zu garantieren. Das entspräche dem Verursacherprinzip; dass also derjenige die Kosten tragen muss, der sie auch verursacht.

Eine weltweite Hungersnot droht allein wegen der russischen Blockade der Häfen. Im Sommer steht die Ernte an, die Kornspeicher sind schon jetzt voll. Ohne die Schifffahrt kommt der Handel zum Erliegen und drohen Nahrungsmittel zu verrotten. Legt es Kremlherrscher Wladimir Putin auf eine humanitäre Katastrophe an? Ist das sein zynisches Kalkül?

Der Verband Deutscher Reeder (VDR) warnt seit Beginn der Invasion, Schiffe und ihre Crews dürften nicht zum Faustpfand im Ukraine-Krieg werden. Aber genau das ist eingetreten.

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VDR-Hauptgeschäftsführer Martin Kröger schätzt, dass etwa 80 Handelsschiffe in ukrainischen Häfen festsitzen, darunter drei aus Deutschland. Einige sind nicht entladen, bei bestimmten Gefahrstoffen muss die Kühlung unter widrigsten Umständen aufrecht erhalten werden. In den Häfen vieler Staaten am Schwarzen Meer wurden Container zwischengelagert, die ursprünglich für die Ukraine bestimmt waren.

Ukraine: Putins Faustpfand - 80 Schiffe, 400 Seeleute

Auf Schätzungen ist Kröger angewiesen, weil nicht wenige Schiffe ihr automatisches Identifikationssystem ausgeschaltet haben. Dann sind sie im Tarnkappenmodus: Sie verschwinden aus globalen Tracking-Systemen wie "vesselfinder".

Zu den Ausnahmen gehört gerade etwa das Frachtschiff "Mallard S" – unter der Flagge von Liberia – im Hafen von Mykolaiv oder die "Sea Luck" aus Panama, die vor Odessa auf Anker liegt. "Wir reden von etwa 400 Seeleuten aus 25 Nationen", erläutert Kröger unserer Redaktion.

Putins Erpressungspotenzial ist groß

In einigen Fällen wurden die Besatzungen reduziert und ausländische Seeleute durch Ukrainer ersetzt. Zu Beginn des Konflikts saßen noch ungefähr 2000 Matrosen fest; viele wurden unter abenteuerlichen Bedingungen evakuiert. In einigen Situationen schien es für die Besatzungen allerdings sicherer, an Bord zu bleiben.

Die Lage ist hochdramatisch. Mal geraten Schiffe unter Beschuss. So sank ein Frachtschiff aus Estland. Mal werden in Odessa Treibminen gefunden. Bestätigen lässt sich das nicht – der Hafen ist militärisches Sperrgebiet.

Kröger versichert,"wir suchen weiterhin nach Möglichkeiten, die Schiffe und Besatzungen zeitnah aus dem Krisengebiet rauszubekommen." Auch der ökonomische Verlust kann noch sehr groß werden. Zwar gibt es Risikoversicherungen. "Aber sie sind immens teuer. Da kann es schnell in die Hunderttausende gehen, pro Tag“, erklärt Kröger. Ab einem bestimmen Punkt rechnet es sich, ein Schiff gleich aufzugeben.

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Es ist eine Ironie, dass die Branche eigentlich gerade einen Bedeutungsgewinn erfährt. Die Krise hat allen vor Augen geführt, wie wichtig der Seehandel und dass die Schifffahrt nicht aus der Zeit gefallen ist. Nicht zuletzt wurde deutlich, welche Bedeutung Deutschland mit der weltweit sechsgrößten Handelsflotte zukommt.

Seeblockade: Landweg keine Alternative zur Schifffahrt

Sehr große Mengen in kurzer Zeit transportieren – das gelingt weder mit dem Flugzeug noch mit Lastwagen. Auch nicht mit der Eisenbahn. Bei ihr kommt erschwerend hinzu, dass die Züge aus der Ukraine nicht mit den schmalen Gleisen in der EU kompatibel sind. Entweder wird die Fracht an der Grenze umgeladen oder die Drehgestelle unter den Waggons ausgetauscht. Zwar gäbe es die Möglichkeit, das Getreide via Weißrussland zu den Ostseehäfen im Baltikum zu transportieren. Nur: Weißrussland ist ein Verbündeter Putins.

Rund 21 Millionen Tonnen an Getreide und Ölsamen liegen in den Silos. Momentan schafft es die Ukraine eine, eineinhalb Tonnen im Monat zu exportieren. Allein mit einem Schiff können nach VDR-Angaben 60.000 Tonnen Getreide transportiert werden. Ein Plan, um die Seeblockade zu umgehen, ist, das Getreide mit Lastwagen ins benachbarte Rumänien und dort etwa über den Hafen Constanta in die Welt zu bringen.

Mit der Blockade wird die Ukraine ökonomisch stranguliert. Putins Erpressungspotenzial ist gewaltig. Für freies Geleit stellt er Bedingungen: Die EU soll ihre Sanktionen gegen Russland aufgeben und die Ukraine die Minen räumen. Eine Verständigung ist nicht in Sicht, zumal die Russen nur mit und über Dritte – die Türkei – über die Ukraine kommunizieren. Kröger macht zwar "Bemühungen um eine politische Lösung" aus, hält aber eher die UNO für "geeigneten Akteur“, um zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln.

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Auch in Brüssel sei der politische Druck, zu Lösungen zu kommen, "groß", wie die dortige VDR-Repräsentantin Irina Haesler erzählt, "aber das Misstrauen gegenüber Wladimir Putin ist es eben auch.“ Eine Einigung über die Schifffahrt könnte nach ihrer Ansicht bei Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland "ein erster Schritt" sein. In Kiew muss die Regierung allerdings befürchten, dass Russland eine Minenräumung anschließend für einen Angriff auf Odessa missbrauchen würde.

Seeblockade: Es gibt kein Durchkommen

"Im Prinzip können wir relativ schnell den Handel wieder aufnehmen", sagt Kröger. Wobei es schon einen Monat dauern würde, um auch nur einen Korridor von Minen zu räumen, Verträge abzuschließen, Schiffe zu chartern, Besatzungen anzuheuern, den Hafenbetrieb – Schlepper, Lotsen etc – wieder aufzunehmen. Kröger klingt nicht allzu optimistisch: „Die Lage ist zu volatil, um schon jetzt eine konkrete Planung anzugehen." Erst müsste die Seeumgebung einigermaßen sicher sein, "dazu bräuchte man rund um die Uhr einen sicheren Korridor und Geleitschutz." Wenn sich beide Kriegsparteien einigten, wäre zumindest Frankreich bereit, "eine Operation durchzuführen, die den Zugang zum Hafen von Odessa in völliger Sicherheit ermöglicht", wie ein Präsidentenberater in Paris erklärte.

Für die ukrainische Volkswirtschaft ist die Seeblockade verheerend. Zudem häufen sich die Berichte über Weizenraub durch die russischen Truppen. Vor allem scheut Putin nicht vor einer weltweiten Hungersnot als Druckmittel zurück.

Internationale Marineoperation – unrealistisch?

"Es ist wichtig zu verhindern, dass Russlands aggressives Vorgehen eine Nahrungsmittelkrise in der Welt auslöst", mahnt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Eine internationale Marineoperation, um die Seeblockade militärisch zu brechen, erscheint eher unwahrscheinlich. Zu groß erscheint die Gefahr einer Konfrontation und Eskalation.

Zuletzt hat Dänemark der Ukraine Anti-Schiffsraketen des Typs "Harpoon" geliefert. Doch schon seit der Versenkung ihres Kreuzers "Moskwa" bleibt die russische Marine auf Distanz. Aber sie beherrscht noch immer die strategisch wichtige Schlangeninsel vor Odessa – ein Durchkommen im Schwarzen Meer ist faktisch unmöglich.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de