Berlin/Brüssel. Russlands Präsident Putin hat seine wichtigsten Kriegsziele verfehlt. Was nun? Die Lage, die Aussichten und die schlimme Opferbilanz.

Vor hundert Tagen marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Die Invasion begann am frühen Morgen des 24. Februar mit Luft- und Raketenangriffen, seitdem sind zehntausende Soldaten und Zivilisten ums Leben gekommen, 14 Millionen Menschen sind auf der Flucht – und die europäische Sicherheitsordnung ist erschüttert. Was hat der russische Präsident Wladimir Putin mit seinem völkerrechtswidrigen Krieg noch erreicht? Eine Zwischenbilanz des Schreckens.

Ukraine-Krieg: Die militärische Lage nach 100 Tagen

Das ursprüngliche Kriegsziel Russlands ist krachend verfehlt. Putin hatte erklärt, die Ukraine müsse demilitarisiert, „entnazifiziert“ und neutralisiert werden – dazu versuchte die russische Phase in Phase eins vergeblich, die Hauptstadt Kiew zu erobern, um die Regierung zu stürzen. Doch die ukrainische Gegenwehr war unerwartet stark, nach schweren Verlusten zogen sich die russischen Truppen Ende März aus dem Norden zurück und konzentrieren sich in Phase zwei auf den Osten des Landes: Dort gilt die Einnahme des Donbass als „bedingungslose Priorität“.

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Hier haben russische Streitkräfte in Phase drei seit Mai Fortschritte erzielt, die Stadt Mariupol besetzt und ukrainische Stellungen durchbrochen: Mit der bevorstehenden Eroberung der Stadt Sewerodonezk rückt die vollständige Einnahme der Provinz Luhansk nahe, die Einkesselung von rund 10 000 ukrainischen Soldaten droht. „Für die Ukrainer wird die Lage im Osten immer düsterer“, sagt der Militärexperte Markus Reisner. „Der Abnützungskrieg führt zum Erfolg der Russen, ohne Waffenlieferungen kann die Ukraine keinen Widerstand leisten.“ Es fehle vor allem weitreichende Artillerie. Insgesamt hat die russische Armee im Osten und Süden der Ukraine eine Fläche etwa von der Größe Ostdeutschlands besetzt und eine Landbrücke von Russland zur besetzten Insel Krim hergestellt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky klagt: „Rund 20 Prozent unseres Territoriums sind nun unter Kontrolle der Besatzer“.

So geht der Ukraine-Krieg weiter

Russland werde jetzt versuchen, auch die Provinz Donezk vollständig einzunehmen, sagt der Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Andras Racz – das könne aber drei bis vier Monate dauern. Es sei denkbar, dass Russland zum Ende des Sommers im Donbass einen Sieg verkünden könne und mit erschöpften Streitkräften einen Waffenstillstand anbieten werde. Auch Nato-Militärs gehen von monatelangen Kämpfen im Osten aus und fürchten, Russland wolle nach einer Eroberung des Donbass und kurzer Pause versuchen, weiter nach Westen vorzurücken, etwa nach Charkiv und Odessa.

„Russland stellt sich auf jeden Fall auf einen längeren Krieg ein, es wird weiter vom Auslöschen der Ukraine gesprochen“, sagt der Berliner Sicherheitsforscher Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR). Doch die Ukraine will im Sommer stark genug sein, eine Gegenoffensive zu starten, „Wenn wir alles zurückgewonnen haben, was uns gehört, werden wir die Kämpfe beenden“, sagt Selensky. Der Westen verstärkt dafür seine Waffenhilfe, ein russischer Sieg über die Ukraine soll verhindert werden. Die Einigkeit dürfte Putin überrascht haben: Die Nato, die er zurückdrängen wollte, rüstet an der Ostgrenze massiv auf und bekommt mit Schweden und Finnland neue Mitglieder – strategisch eine schwere Niederlage. „Putin hat alle seine strategischen Ziele verfehlt“, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).

Wie viele zivile Opfer hat der Ukraine-Krieg gefordert?

Die Vereinten Nationen zählen in der Ukraine mindestens rund 4200 getötete und fast 5000 verwundete Zivilisten. Das sind nur die bislang bestätigten Opfer vor allem durch Raketenangriffe. Die Ukraine spricht von 25.000 getöteten Zivilisten, in mehr als 15 000 Fällen wird schon wegen russischer Kriegsverbrechen ermittelt.

Russische Panzer, die von den ukrainischen Verteidigern zerstört wurden, sstehen in einer Straße der Stadt Bucha bei Kiew. Das Bild entstand Anfang März während der gescheiterten russischen Offensive auf Kiew.
Russische Panzer, die von den ukrainischen Verteidigern zerstört wurden, sstehen in einer Straße der Stadt Bucha bei Kiew. Das Bild entstand Anfang März während der gescheiterten russischen Offensive auf Kiew. © AFP | ARIS MESSINIS

Die Zahl der gefallenen Soldaten im Ukraine-Krieg: Bis zu 50 000

Unklar, die Schätzungen reichen von 30 000 bis 50 000 Opfern auf beiden Seiten. Nato-Militärs gehen von etwa 15 000 gefallenen russischen Soldaten aus, ukrainische Stellen vermuten fast doppelt so viel. Für die Ukraine sprachen US-Schätzungen Mitte April schon von 5000 bis 11000 Gefallenen. Inzwischen würden täglich 60 bis 100 ukrainische Soldaten an der Front ihr Leben lassen, sagt Präsident Wolodymyr Selensky.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

14 Millionen Flüchtlinge im Ukraine-Krieg

Nach Daten des UN-Flüchtlingskommissars sind rund 14 Millionen Menschen auf der Flucht, gut die Hälfte innerhalb der Ukraine. 6,6 Millionen Flüchtlinge haben das Land verlassen, mehr als die Hälfte hat Polen aufgenommen, rund 700.000 Flüchtlinge sind in Deutschland registriert. Aber 2,1 Millionen Ukrainer sind schon wieder ihr Heimatland zurückgekehrt.

Ein polnischer Grenzschützer reicht im Bahnhof von Przemysl in der Nähe des ukrainisch-polnischen Grenzübergangs einem Kind ein Stofftier. Das Kind war mit dem Zug aus Kiew angekommen.
Ein polnischer Grenzschützer reicht im Bahnhof von Przemysl in der Nähe des ukrainisch-polnischen Grenzübergangs einem Kind ein Stofftier. Das Kind war mit dem Zug aus Kiew angekommen. © dpa | Kay Nietfeld

So groß ist das Ausmaß der Zerstörung in der Ukraine

Die Regierung in Kiew gibt die Schäden durch die russischen Bombardements und Raketenangriffe mit mehr als 600 Milliarden Euro an. Nach einer ersten Erfassung durch Wissenschaftler sind eine halbe Million Wohnungen zerstört, ebenso 230 Krankenhäuser, über 200 Fabriken, 940 Schulen und 540 Kindergärten. 23000 Kilometer Straßen müssen repariert werden. Die Wirtschaftsleistung bricht dieses Jahres um ein Drittel ein.

Aber auch Russland muss sich im laufenden Jahr auf einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um zehn Prozent einstellen, eine Folge auch der westlichen Sanktionen. „Die russische Wirtschaft bricht ein“, sagt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). „Und die Zeit arbeitet nicht für Russland, sie arbeitet gegen Russland.“

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen