Berlin. Botschafter Andrij Melnyk über die Lage in der Ukraine, seine umstrittene Wortwahl und über den Wunsch, der Nato beitreten zu wollen.

Er trommelt unermüdlich für Waffenlieferungen, kritisiert mit harschen Worten sogar Bundeskanzler Olaf Scholz, wird im Bundestag mit stehendem Applaus gefeiert und ist derzeit der gefragteste Diplomat in Fernseh-Talkshows: Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Berlin. Jetzt nahm er sich ausführlich Zeit für ein Interview in unserer Redaktion.

Herr Botschafter, wie ist die Lage an der Front?

Andrij Melnyk: Trotz militärischer Erfolge der Ukraine rund um die Stadt Charkiw ist es noch zu früh, um von einer Kriegswende zu sprechen. Die Russen konzentrieren ihre Offensive im Osten. Der ganze Südosten der Ukraine ist nach wie vor besetzt. Wir wollen alle okkupierten Gebiete befreien.

Kann die Ukraine den Krieg gegen den übermächtigen Gegner Russland gewinnen?

Melnyk: Das glaube ich schon. Es ist eine Frage der Zeit und eine Frage der Unterstützung unserer Partner, die wir bekommen. Letzteres ist der entscheidende Faktor. Nur aufgrund der westlichen Militär- und Finanzhilfen konnte Russlands Angriff auf Kiew abgewehrt und der Vormarsch im Osten gestoppt werden.

Viele Deutsche haben Angst in einen Atomkrieg oder einen Dritten Weltkrieg hineingezogen zu werden. Warum nehmen Sie diese Sorgen nicht ernst?

Melnyk: Natürlich müssen wir das ernst nehmen. Dennoch ist aus unserer Sicht die Wahrscheinlichkeit gering, dass Atomwaffen zum Einsatz kommen. Sie spielen eine viel größere Rolle als Droh-Potenzial, das Putin meisterhaft einsetzt. Das eine ist, Angst zu haben. Das andere ist, sich von der Angst leiten zu lassen. Die Ampel müsste daher viel mutiger agieren.

Der Bundestag hat beschlossen, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Was ist mittlerweile bei Ihnen angekommen?

Melnyk: Seit diesem historischen Beschluss sind 21 Tage vergangen. Seitdem hat die Ukraine keine schweren Waffen aus Deutschland erhalten. Am 26. April wurde allerdings in Ramstein die Zusage gemacht, 50 Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard zu liefern. Dieses Thema ist jedoch fast vom Tisch, weil es nach wie vor keine Munition für die Gepard-Panzer gibt.

Die Bundesverteidigungsministerin verspricht Ihnen Waffen – mit dem Wissen, dass es dafür keine Munition gibt?

Melnyk: Es war auf jeden Fall eine merkwürdige Entscheidung. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht musste in Ramstein etwas anbieten. Die Ukraine würde schon die Gepard-Panzer brauchen. Das Thema Munition hatten wir bei der Bundesregierung bereits in der zweiten Kriegswoche angesprochen. Die Antwort war damals: gibt es nicht. Man werde sich aber auf die Suche machen. Das ist der Stand bis heute.

Bei der schweren Artillerie hat die Bundesregierung hingegen geliefert?

Melnyk: Das ist richtig. Das ist der einzige Punkt, bei dem wir seit der Entscheidung des Bundestages vorangekommen sind. Sieben Panzerhaubitzen vom Typ 2000 wurden von Deutschland, fünf von den Niederlanden zugesagt. Seit einigen Tagen werden ukrainische Soldaten hierfür in Rheinland-Pfalz ausgebildet. Weitere Anträge über die Lieferung schwerer Waffen liegen seit mehr als drei Wochen beim Bundessicherheitsrat. Dabei geht es unter anderem um 100 Schützenpanzer vom Typ Marder und 88 Leopard-1-Kampfpanzer. Doch es wird leider keine Entscheidung getroffen, obwohl diese Waffensysteme nicht aus dem Bestand der Bundeswehr kommen, sondern den Rüstungsfirmen zur Verfügung stehen.

Hat die Industrie Waffen in dieser großen Zahl parat?

Melnyk: Wir haben konkrete Wünsche an das Rüstungsunternehmen Rheinmetall gerichtet. Es gibt ein sehr präzises Angebot der Firma, bei dem genau aufgelistet ist, welche Waffen zügig geliefert werden können. Das ist seit Monaten bekannt.

Es war nicht meine Absicht, jemanden zu beleidigen, sagt der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk.
Es war nicht meine Absicht, jemanden zu beleidigen, sagt der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Warum erfolgt die politische Entscheidung nicht?

Melnyk: Darüber kann man nur spekulieren. Es scheint, dass die Bundesregierung nicht den Willen hat, uns so schnell wie möglich mit schweren Waffen zu helfen. Sie wird vielmehr von dem Bestreben geleitet, die Lage nicht zu eskalieren. Der Punkt, bei dem Deutschland als Kriegspartei wahrgenommen wird, soll unter allen Umständen vermieden werden.

Solche Überlegungen sind doch legitim!

Melnyk: Es gibt in politischer wie völkerrechtlicher Hinsicht eine klare Linie: Wer Waffen liefert, wird dadurch nicht automatisch zur Kriegspartei. Das ändert sich erst, wenn eigene Truppen entsandt werden, was ja nicht der Fall ist.

Welche Begründung für diese Zurückhaltung hören Sie aus der Bundesregierung?

Melnyk: Auf der Arbeitsebene verschiedener Ministerien – auch des Verteidigungsministeriums – sowie im Bundestag wird auf das Kanzleramt als Bremser verwiesen.

Es gab große Aufregung um eine geplatzte reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Jetzt hat er sich mit Präsident Selenskyj ausgesprochen War alles nur ein Missverständnis?

Melnyk: In der Ukraine hat man die Rolle Steinmeiers in den letzten Jahren sehr genau beobachtet. Jetzt, wo sich herausstellt, dass die Appeasement-Politik gegenüber Russland gescheitert ist, bleibt das nicht unbemerkt. Warum am Ende Bundespräsident Steinmeier nicht mit seinen Amtskollegen aus Polen und dem Baltikum nach Kiew reisen konnte, weiß ich nicht. Fakt ist: damals gab es keine Einladung, daher kann man nicht über eine Ausladung reden. Präsident Selenskyj freut sich, den Bundespräsidenten in Kiew zu treffen.

Viele Deutsche sind irritiert über Ihre Wortwahl. Wie kommen Sie dazu, das Verfassungsorgan Bundeskanzler als „beleidigte Leberwurst“ zu bezeichnen?

Melnyk: Es war nicht meine Absicht, jemanden zu beleidigen. Ich fand es aber merkwürdig, dass man immer wieder nach Ausreden sucht, um eine notwendige Entscheidung wie die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine nicht zu treffen oder zu verschieben. Viele Ukrainer wundern sich, dass Bundeskanzler Olaf Scholz noch immer nicht nach Kiew gereist ist. Man fragt sich schon, warum der Regierungschef eines der weltweit wichtigsten Partner der Ukraine diesen wichtigen Besuch noch nicht abgestattet hat.

Sie halten den Kanzler also immer noch für eine „beleidigte Leberwurst“?

Melnyk: Aus unserer Sicht geht es darum: Wenn man sich als Partner sieht und das auch öffentlich kommuniziert, dann hilft man nicht nur durch schwere Waffen. Da sind auch starke symbolische Gesten wie ein Besuch in Kiew wichtig. Aber beides fehlt. Deutschland muss ja nichtsagen: Wir wollen den Ukrainern helfen. Es könnte auch sagen: Das ist nicht unser Krieg. Wir wollen es wie die Schweiz halten.

Sie vergleichen Deutschland mit der Schweiz?

Melnyk: Die Debatten der letzten Wochen weisen in diese Richtung. Der Tenor lautet: Man will nicht in den Krieg hineingezogen werden, sondern seinen Wohlstand beibehalten. Ich glaube schon, dass sich viele Menschen in Deutschland danach sehnen, wie eine große Schweiz mitten in Europa zu leben. Man will sich solidarisch mit der Ukraine zeigen, aber nicht zu viel tun.

Ist Ihnen bewusst, dass Sie mit Ihrer ungewöhnlich scharfen Rhetorik auch Deutsche verletzen, die eigentlich ukrainefreundlich eingestellt sind?

Melnyk: Das kann ich menschlich sehr gut verstehen. Daher muss ich jedes Wort sorgfältig abwägen. Aber manchmal geht es nicht anders, als rhetorisch anzuecken, sogar zu provozieren. Klar, das kann zu Verstimmungen führen. Hauptsache ist, dass die deutsche Politik umsteuert. Auch die Bundesrepublik wird davon profitieren.

Viele Deutsche haben Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Verprellen Sie mit Ihrer scharfen Sprache nicht auch diejenigen, die sich so stark engagieren?

Melnyk: Wir sind den Deutschen sehr dankbar, die rund 700.000 meiner Landsleute aufgenommen haben. Aber ich glaube, genau diesen Menschen, die so großartig helfen, müsste das peinlich sein. Sie reden ja mit den ukrainischen Flüchtlingen direkt, kennen ihre Sorgen und fragen sich wohl dann: Warum unternimmt die Bundesregierung nicht genug, um diesen barbarischen Krieg Russlands zu stoppen?

Gehen Sie davon aus, dass alle Flüchtlinge nach dem Krieg in die Ukraine zurückkehren werden?

Melnyk: Ich glaube, dass mindestens 70 bis 80 Prozent der Ukrainer sofort zurückkehren werden.

Der ukrainische Präsident Selenskyj hat eingeräumt, dass ein Nato-Beitritt seines Landes nicht realistisch sei. Ist das Thema endgültig vom Tisch?

Melnyk: Ganz im Gegenteil. Das Ziel des Nato-Beitritts wird bleiben. Ein Großteil der Ukrainer will das.

Welchen Zeithorizont sehen Sie für eine einen Nato-Beitritt?

Melnyk: Klar ist: Wir wollen schnell in die Nato. Das kann genauso rasch gehen wie im Fall von Schweden oder Finnland. Es bräuchte nur eine rein politische Entscheidung, um die Ukraine zügig ins Bündnis zu integrieren. Ich glaube, dass die Ukraine heute viel mehr Chancen auf eine Nato-Mitgliedschaft hat als noch vor dem Krieg. Wenn die Ukraine im Bündnis wäre, sinkt das Risiko eines Atomkrieges. Dann würde Putin wissen: Würde die Ukraine mit Nuklearwaffen angegriffen, müsste er mit einem atomaren Gegenschlag rechnen. Das würde ihn davon abhalten.

Die EU-Kommission will im Juni beurteilen, ob die Ukraine Beitrittskandidat der Europäischen Union werden kann. Falls die Ukraine den Kandidaten-Status bekommt: Glauben Sie, dass alle EU-Länder mitziehen?

Melnyk: Ich glaube, dass die Ukraine innerhalb von zehn Jahren Mitglied der EU sein kann. Uns geht es jetzt vor allem darum, den Kandidaten-Status zu erhalten. Dann kann der Verhandlungsprozess beginnen. Das ist eine wichtige politische Entscheidung. Nun kommt es darauf an, dass Deutschland nicht nur abwartet und schaut, wie die Stimmung in Frankreich oder den Niederlanden ist. Die Ampel sollte eine führende Rolle in diesem historischen Prozess spielen.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.