Berlin. Eine russische TV-Journalistin unterbricht mit ihrem Protest eine Live-Sendung. Wie gefährlich können solche Aktionen Putin werden?

Es ist eine Szene für die Geschichtsbücher. In der Hauptnachrichtensendung „Wremja“ des russischen Staatsfernsehens präsentiert eine Moderatorin am Montagabend die Ereignisse des Tages. Die Frau trägt ein dunkles Jackett, im Hintergrund dreht sich eine Weltkugel. Sie spricht kurze Sätze im Putin-Talk: In Kiew säßen die „Nazis“, die pro-russischen Separatisten Im Donbass seien die „Opfer“, hinter den harten Sanktionen des Westens stecke eine Kampfansage an die Russen. Die allabendliche Propaganda-Beschallung.

Plötzlich erscheint eine Frau hinter der Sprecherin. Es ist Marina Owssjannikowa, eine Redakteurin beim Sender Erster Kanal. Sie hält ein Plakat hoch mit der Aufschrift: „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Sie lügen euch an.“ Sechs Sekunden dauert der Auftritt, ehe Bilder aus einem Krankenhaus einspielt werden.

Livesendung in Russland: Marina Owssjannikowa läuft mit einem Anti-Kriegs-Plakat durchs Bild.„ Stoppt den Krieg. Glaubt nicht der Propaganda, hier werdet ihr belogen. Russen gegen den Krieg“, steht es auf Russisch und Englisch auf dem Plakat geschrieben.
Livesendung in Russland: Marina Owssjannikowa läuft mit einem Anti-Kriegs-Plakat durchs Bild.„ Stoppt den Krieg. Glaubt nicht der Propaganda, hier werdet ihr belogen. Russen gegen den Krieg“, steht es auf Russisch und Englisch auf dem Plakat geschrieben. © dpa | Foto:

Sechs Sekunden, die nicht nur live in Millionen russischer Wohnzimmer zu sehen sind. Sie verbreiten sich wie ein Lauffeuer durch die sozialen Medien rund um den Globus. Genauso wie die Bilder aus einem Video, das Owssjannikowa zuvor aufgezeichnet hat. Sie steht darin vor einem Blumengemälde, um den Hals hat sie eine Kette mit den Nationalfarben der Ukraine und Russlands gelegt. Ihr Vater sei Ukrainer und ihre Mutter Russin, betont sie. „Das, was derzeit in der Ukraine passiert, ist ein Verbrechen. Und Russland ist der Aggressor. Die Verantwortung für diese Aggression liegt auf dem Gewissen eines einzigen Menschen. Dieser Mensch ist Wladimir Putin.“

Neues Mediengesetz: Es drohen bis zu 15 Jahre Haft

Wie die Menschenrechtsorganisation OWD-Info berichtet, wird Owssjannikowa nach ihrer Protestaktion sofort festgenommen. Am späten Dienstagnachmittag erscheint sie im Bezirksgericht Ostankino in Moskau. Ihr drohten zehn Tage Haft, heißt es zunächst. Am Dienstagabend meldet die russische Nachrichten Agentur Tass, dass Owsjannikowa zu einer Geldstrafe von 30.000 Rubel (250 Euro) verurteilt wurde. Das neue russische Mediengesetz sieht sogar bis zu 15 Jahre Gefängnis für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ über das Militär vor. Laut ihrer mittlerweile gesperrten Facebook-Seite ist Owsjannikowa 44 Jahre alt, geschieden und hat zwei Kinder.

Owssjannikowa im Video, das sie vor dem Protest aufgenommen hatte.
Owssjannikowa im Video, das sie vor dem Protest aufgenommen hatte. © dpa | Foto:

Im Kurznachrichtendienst Twitter, der in Russland seit Anfang März nur noch eingeschränkt zugänglich ist, überschlagen sich die Kommentare von Usern – ukrainischen wie russischsprachigen. „Verehrung ohne Ende für sie“ oder „Einfach eine Heldin“, heißt es da.

Auch das Team des inhaftierten Regimegegners Alexej Nawalny feiert den Auftritt der Journalistin. „Wow! Eine krasse Frau“, schreibt Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch auf Twitter. Ein User namens Sabi Baibussinow aus dem kasachischen Astana schwärmt: „Bravo! Was für eine mutige Nummer. Dafür muss man aus Stahl sein.“ In Kasachstan hatte es zu Jahresbeginn Proteste gegen die kremltreue Regierung gegeben, die mit Hilfe russischer Fallschirmjäger niedergeschlagen wurden.

Die einzige noch teilweise unabhängige Zeitung in Russland, die „Nowaja Gaseta“ von Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, veröffentlicht einen Screenshot von der Szene mit Owsjannikowas Protest. Allerdings entfernt die Redaktion den Schriftzug „Stoppt den Krieg“ und zeigte stattdessen ein weißes Plakat. Den Inhalt wiederzugeben, „verbieten uns die Behörden und das Gesetz“, teilt die Zeitung zur Erklärung mit.

Fast 15.000 Menschen bei Protesten festgenommen

Dies ist ein Hinweis auf die Novellierung des russischen Mediengesetzes Anfang März. Seitdem drohen nicht nur professionellen Journalisten hohe Geld- oder Haftstrafen, wenn sie „absichtlich falsche Informationen über die Benutzung der Streitkräfte der Russischen Föderation öffentlich verbreiten“. Auch Privatpersonen sind betroffen, die sich in sozialen Netzwerken gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine positionieren.

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine versucht der Kreml, alle kritischen Stimmen im Land zu ersticken, er zensiert Medien, blockiert Soziale Netzwerke. Jeder, der an den Anti-Kriegs-Demos teilnimmt oder Informationen verbreitet, die von der offiziellen Darstellung Moskaus abweichen, kann bestraft werden. Nach Angaben von OWD-Info wurden bislang fast 15.000 Menschen festgenommen.

Auch diese Oma wurde festgenommen: Die 77-Jährige Elena Osipova protestierte gegen den Ukraine-Krieg.
Auch diese Oma wurde festgenommen: Die 77-Jährige Elena Osipova protestierte gegen den Ukraine-Krieg. © Reuters | Stringer

Und die Sicherheitskräfte gehen immer rabiater gegen Demonstranten vor. Marina P. (Name von der Redaktion geändert) hört an einem Morgen Schreie aus dem Erdgeschoss ihrer Wohnung in Moskau. Dann nimmt sie laute Schritte von schweren Stiefeln wahr, gefolgt von einem plötzlichen Krachen. „Sie brachen die Tür zu unserem Gemeinschaftsbalkon auf“, berichtet die 33-Jährige. Einen Tag vorher haben die Bewohner eine ukrainische Fahne auf dem Balkon aufgehängt. Darauf prangte der Schriftzug „Nein zum Krieg“.

Was die russische Armee im Nachbarland anrichtet, erfährt Marina P. vorwiegend über ausländische Medien, Freunde im Ausland und Telegram-Kanäle, über die zum Beispiel auch das Team von Nawalny berichtet. Viermal hat sie bereits an einer Anti-Kriegs-Demonstration am Puschkin-Platz teilgenommen. Das letzte Mal wurden ihre Schwester und ihr Freund in Gewahrsam genommen, von den schwarz gekleideten Sonderpolizisten in einen Polizeibus verfrachtet.

Westliche Sanktionen immer spürbarer, Menschen werden wütender

Oleg V. (Name von der Redaktion geändert) bekam vor zwei Wochen Pfefferspray ab, als er mit seinen Freunden eine Menschenkette in einer Moskauer Fußgängerzone bildete. Dass nur vorwiegend jüngere Menschen in Russland protestieren, kann der 24-Jährige bestätigen. „Vor allem ältere Russinnen und Russen sind Opfer medialer Gehirnwäsche, die sind seit ihrer Kindheit indoktriniert worden“, unterstreicht er. Selbst mit den eigenen Verwandten über den Krieg zu reden, sei schwer bis unmöglich.

Der Student hofft, dass sich der Protest in den nächsten Tagen und Wochen weiter formiert, da die westlichen Sanktionen immer spürbarer werden. „Es ist alles extrem teuer geworden, viele Supermarkt-Regale sind nahezu komplett leer, die Leute werden wütender“, erzählt der junge Russe.

Experten rechnen aber nicht mit einem breiten Widerstand gegen Putin – zumindest nicht kurzfristig. Eine zunehmende Apathie sei spürbar und lähme die russische Gesellschaft, sagt Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Viele kritisch eingestellte Menschen verließen das Land. Wenn der Krieg andauere, werde die Unzufriedenheit zunehmen, erklärt Fischer. In der Folge könnten Putin und sein Herrschaftsapparat ins Wanken geraten. „Das ist aber bestenfalls Zukunftsmusik. Und ob es dann besser wird, ist auch fraglich.“

Dass viele Russinnen und Russen aus Angst nicht protestieren wollen, hält Marina P. für verständlich: „Nach der letzten Demo habe ich auch große Bedenken.“ Ihr Freund, der bereits einmal verhaftet wurde, will trotzdem auf die Straße gehen. Die nächste große Demo ist für den kommenden Sonnabend geplant.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.