Brüssel/London. Das Brexit-Chaos wird immer verrückter. Die verzweifelte Premierministerin Theresa May hofft auf Hilfe von Kanzlerin Angela Merkel.

Jetzt ist das Brexit-Chaos perfekt: Die britische Regierung bereitet trotz Austrittswunsch offiziell die Teilnahme an den EU-Parlamentswahlen vor – die Briten würden als erste EU-Bürger, schon am 23. Mai, ihre Stimmen abgeben, erklärte die Regierung in London in der Nacht zu Dienstag. In Deutschland und vielen anderen EU-Staaten wird erst am Sonntag, 26. Mai, das Europäische Parlament gewählt.

Die Zeit läuft: Innerhalb von zwei Wochen müssen in Großbritannien jetzt die Nominierungen der Kandidaten abgeschlossen sein. Bleiben die Briten also doch in der EU? Es sei nur eine Vorsichtsmaßnahme einer „verantwortungsvollen Regierung“, ließ die britische Premierministerin Theresa May erklären.

May: Es bleibt bei der Absicht, EU vor dem 22. Mai zu verlassen

„Es bleibt bei der Absicht der Regierung, mit einem Vertrag die EU zu verlassen und die notwendige Gesetzgebung dazu vor dem 22. Mai abzuschließen, so dass wir nicht an den EU-Wahlen teilnehmen müssen“. May hat bei der EU um Aufschub bis 30. Juni gebeten, setzt aber noch immer darauf, dass das Scheidungsverfahren früher abgeschlossen werden kann. Dann würde die Wahl doch ohne die Briten stattfinden.

Aber das ist völlig ungewiss. Erste Voraussetzung: Die EU-Regierungschefs müssen bei einem Brexit-Krisengipfel am Mittwochabend in Brüssel einer abermaligen Verschiebung des Austrittstermins zustimmen – sagen die Regierungschefs „No“, muss Großbritannien nach den geltenden Festlegungen der EU schon Freitagnacht (12. April) die Union ohne Vertrag verlassen. Die Variante ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen.

Kann Angela Merkel einen Chaos-Brexit verhindern?

Den Chaos-Brexit im Nacken suchte eine verzweifelte May am Dienstagmittag Hilfe bei Kanzlerin Angela Merkel. Und die sagte nach dem eineinhalbstündigen Termin mit der britischen Premierministerin, sie halte eine Verschiebung des britischen EU-Austritts bis Ende 2019 oder sogar Anfang 2020 für möglich.

Beim EU-Sondergipfel an diesem Mittwoch in Brüssel werde es um eine „Flextension“-Erweiterung des Austrittstermins gehen, sagte die Kanzlerin am Dienstag nach Angaben von Teilnehmern in einer Sitzung der Unionsfraktion im Bundestag.

EU-Ratspräsident Donald Tusk hat dagegen eine flexible Verlängerung um bis zu zwölf Monate vorgeschlagen. Der Vorschlag ist als „Flextension“ oder „Flexi-Brexit“ bekannt.

Merkel will „bis zur letzten Stunde“ kämpfen

May will am Dienstag auch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron um Unterstützung bitten für die erneute Frist-Verlängerung. Besonders vom Gespräch im Kanzleramt hatte sich May viel erhofft. Beide Regierungschefinnen wollen einen Chaos-Brexit möglichst verhindern.

Merkel hatte schon angekündigt, sie wolle „bis zur letzten Stunde“ darum kämpfen. Die Kanzlerin warnt ihre Kollegen, sie würden von späteren Generationen gefragt, ob sie wirklich alles getan hätten, um eine chaotische Scheidung von den Briten zu verhindern.

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Emmanuel Macron will Briten gehen lassen

Zu dem Lager, auf das May bei ihrer Bitte um eine kurze Gnadenfrist setzen kann, zählen neben Deutschland unter anderem Polen, Irland oder die Niederlande. Das Gegenlager führt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an, den May im Anschluss an ihre Berlin-Visite am Dienstagabend in Paris besucht. Macron hat die EU-Regierungschefs dem Vernehmen nach im kleinen Kreis deutlich aufgefordert, die Briten besser ohne Vertrag austreten zu lassen als ihnen eine weitere Gnadenfrist zu gewähren – dann bestehe die Gefahr, dass die britische Regierung die EU als „Geisel“ nehme, wichtige Entscheidungen in Brüssel blockiere.

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Doch Macrons harte Worte sind offenbar vor allem an die französischen Wähler gerichtet, bei denen der Anti-Briten-Kurs gut ankommt. Dass der Präsident am Ende tatsächlich sein Veto gegen eine Verlängerung des Austrittstermins einlegt und damit verantwortlich wäre für einen Chaos-Brexit, gilt bei den Brexit-Verhandlern der EU als unwahrscheinlich.

Der Unmut über die Hinhaltetaktik der britischen Premierministerin ist nicht nur in Paris groß. May muss deshalb in ihren Gesprächen mit Merkel und Macron und dann beim Krisen-Gipfel in Brüssel klarmachen, dass sie einen Plan hat, wie der Austrittsvertrag bis zum neuen Brexit-Datum doch noch vom britischen Parlament abgesegnet werden soll. Mehrere Regierungschefs wie der niederländische Premier Mark Rutte erklärten am Montagabend nach Telefonaten mit May, sie erwarteten eine klare Zusicherung, dass London zur „aufrichtigen Zusammenarbeit“ mit der EU bereit sei.

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Britisches Parlament sichert sich Kontrolle

May will dazu auf ihre Verhandlungen mit der oppositionellen Labour-Partei verweisen. In London gehen die Gespräche ihrer Unterhändler mit Labour-Vertretern weiter. Ziel ist eine Verständigung, die im Parlament eine breite Mehrheit für den schon dreimal gescheiterten Austrittsvertrag sichern soll.

Gesprochen wird auf Drängen von Labour über eine Lösung, nach der Großbritannien dauerhaft in einer Zollunion mit der EU bleiben würde. Weil das auf Widerstand der konservativen Tories stößt, spricht May intern aber nur von einem Zoll-„Arrangement“. Labour-Chef Jeremyn Corbyn erklärte, die Regierung habe bislang keine ausreichenden Zusagen gemacht. Das Problem bestehe darin, dass die Regierung nicht von ihrer ursprünglichen Linie abweiche.

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Auf die EU-Regierungschefs wird der Prozess wohl wenig Eindruck machen. Stattdessen registriert man in Brüssel, dass May die Kontrolle im Parlament weiter entgleitet. In der Nacht zu Dienstag sicherte sich das Parlament die Kontrolle darüber, wie lang eine Verschiebung dauern soll. Das kann May nicht mehr allein entscheiden: Beide Kammern des Parlaments – Unterhaus und Oberhaus – einigten sich auf ein Gesetz, das diese Befugnis dem Parlament zubilligt. Die Queen stimmte umgehend zu. Außerdem ist klargestellt: Einen chaotischen Brexit am Freitag soll es nicht geben.

May reagierte in der Nacht sofort: Auf dem Tisch liegt nun ein förmlicher Antrag ihrer Regierung, die EU-Mitgliedschaft bis zum 30. Juni zu verlängern. Darüber werden die Abgeordneten am Dienstag debattieren. Das Parlament könnte aber auch einen anderen Austrittstermin bestimmen. Bislang ist eine Mehrheit dafür sehr unwahrscheinlich. (Christian Kerl)