Brüssel/London. Theresa May steht beim aktuellen Brexit-Chaos im Fokus. Dabei ist sie nicht die Alleinschuldige. Wie es überhaupt soweit kommen konnte.

Am Freitag wollte die britische Premierministerin Theresa May Geschichte schreiben. Am 29. März, 23 Uhr Ortszeit, sollte das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union austreten. So hatte es May auf den Tag genau vor zwei Jahren in einem förmlichen Schreiben an den EU-Rat der Mitgliedstaaten mitgeteilt, nachdem neun Monate zuvor eine knappe Mehrheit der britischen Wähler bei einem Referendum für den Brexit gestimmt hatte.

Und nun? Großbritannien wird auch am Samstag noch EU-Mitglied sein. Der Austritt ist erst mal vertagt. Vielleicht für länger, vielleicht für immer. Niemand weiß, wie es weitergeht. Der Brexit, ein Trauerspiel: Die Gründe sind vielfältig, aber diese fünf Briten tragen eine große Verantwortung am Debakel.


Die britische Premierministerin Theresa May.
Die britische Premierministerin Theresa May. © Reuters | HENRY NICHOLLS

Theresa May Zugegeben, der Brexit war nicht ihre Idee. Die Premierministerin hatte sich beim Referendum vor drei Jahren für eine weitere EU-Mitgliedschaft ausgesprochen. Als das Volk anders entschieden hatte, übernahm die Pfarrerstochter tapfer Verantwortung, während sich konservative Parteifreunde aus dem Staub machten. Aber wie May danach die Austrittsvorbereitungen managte, ist im Rückblick eine Serie von Versäumnissen, Fehlkalkulationen und politischen Irrtümern.

Erst hatte sie nicht den Mut, die Briten darüber aufzuklären, dass die Brexit-Befürworter zu viel versprochen hatten. Das Land konnte nicht die Pflichten der EU-Mitgliedschaft abwerfen, aber alle Vorzüge weiter genießen, vor allem die des Binnenmarktes. Statt die Lügen der Brexiteers zu entlarven, strickte May selbst weiter an den Legenden. Sie versuchte vergeblich, das Lager der anderen 27 EU-Staaten zu spalten und setzte ohne Not Neuwahlen an, die sie nur mit Ach und Krach überlebte.

Stark geschwächt, wie sie war, hätte May spätestens jetzt versuchen müssen, einen breiten Konsens auch mit der Opposition herzustellen; doch May unterließ alle Verständigungsbemühungen. Stattdessen wollte sie die konservativen Hardliner unter den Brexit-Befürwor­tern zur Zustimmung zum Austrittsvertrag zwingen. Das war aussichtslos von Anfang an. May hatte gegen die geschlossene Verhandlungsführung der 27 EU-Staaten ohnehin die schlechteren Karten. Doch sie hat ihre Lage mit Ungeschick noch verschlechtert. Ihre wortkargen, ausweichenden Auftritte bei den Gipfeln der EU-Regierungschefs wurden von mal zu mal schlimmer. Immer neue Pirouetten ließen früh erahnen, dass die 62-jährige Regierungschefin nur noch hoch pokerte, aber nie einen überzeugenden Plan hatte. Es zeigte sich, dass sich Theresa May beim Brexit komplett verzockt hat.

• Hintergrund: Parlamentspräsident erlaubt dritte Abstimmung zu Brexit-Deal


Samantha Cameron und der ehemalige Premierminister David Cameron.
Samantha Cameron und der ehemalige Premierminister David Cameron. © picture alliance / www.piqtured. | dpa Picture-Alliance / Richard Goldschmidt

David Cameron Mays Vorgänger als Premier hat den Briten das Unglück eingebrockt. Cameron hatte das Referendum ohne Not nur angesetzt, um die EU-Kritiker in seiner konservativen Partei ein für alle mal ruhigzustellen – in der Annahme, die Briten würden sicher gegen den Brexit stimmen.

Der Ausgang ist bekannt, Cameron hat sich verschätzt. Gleich nach der Niederlage nahm er seinen Hut und tauchte ab, inzwischen arbeitet er ein paar Tage im Monat für einen Investmentfonds und engagiert sich in einer Alzheimer-Forschungsgruppe. Vor Kurzem erklärte der 52-Jährige, er bereue die Niederlage, aber nicht, den Austritt in Gang gesetzt haben. Die Veröffentlichung seiner Memoiren ist auf September verschoben – um die Brexit-Verhandlungen nicht zu stören. Die Erwartung, im Herbst sei alles vorüber, könnte Camerons nächster Irrtum sein.


Boris Johnson, ehemaliger Außenminister Großbritanniens.
Boris Johnson, ehemaliger Außenminister Großbritanniens. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | dpa Picture-Alliance / Andrew Mccaren

Boris Johnson Als Londoner Bürgermeister war der ehrgeizige Konservative mit der markanten Strubbelpony-Frisur 2016 einer der Anführer der Brexit-Kampagne. Für den EU-Austritt warb er – nach längerem Zögern – nicht aus Überzeugung, sondern aus Gegnerschaft zu Parteichef Cameron. Vom Erfolg der Brexit-Kampagne war Johnson selbst überrascht. Einen Plan für den Austritt hatte er nicht. Und sein Plan, Cameron im Amt des Premierministers zu beerben, scheiterte.

May machte ihn immerhin zum Außenminister. Doch Johnson nutzte das Amt, um sich als Hardliner gegen Mays Brexit-Kurs zu positionieren. Vorigen Sommer trat er zurück. Jetzt gilt der 54-Jährige als möglicher Nachfolger der Premierministerin. Bei den britischen Buchmachern gilt er dafür als Favorit. Doch hat sich Johnson mit seiner Skrupellosigkeit auch in den Reihen der Tories schon einige Feinde gemacht. Dass er nach Mays Rücktrittsangebot angekündigte, er wolle nun doch für den von ihm lange bekämpften Brexit-Deal stimmen, passt ins Bild.


Jeremy Corbyn, Opptositionsführer im britischen Parlament.
Jeremy Corbyn, Opptositionsführer im britischen Parlament. © dpa | Stefan Rousseau

Jeremy Corbyn Der Chef der oppositionellen Labour-Partei hat es sich in der Brexit-Debatte allzu bequem gemacht: „Wir müssen die nächste Wahl gewinnen, und dafür müssen wir uns so lang wie möglich heraushalten“, beschreiben Labour-Insider seine Strategie. Nach Neuwahlen finde Labour schon eine Lösung für den Brexit, verkündete der 69-Jährige; ein zweites Referendum wäre in diesem Kalkül eine absolute Notlösung.

Bei der Abstimmung 2016 hatte sich Corbyn auf Druck der Basis noch für die EU-Mitgliedschaft ausgesprochen, danach blieb er vage, lehnte einen Anti-Brexit-Kurs ab und plädierte später für eine irgendwie engere Anbindung an die EU nach einem Austritt.

Klar, die Labour-Wähler sind in der Frage gespalten. Und ja, May hat nie um die Hilfe des Oppositionsführers geworben. Trotzdem: Seiner Verantwortung in historischer Stunde ist der Labour-Chef nicht gerecht geworden.

John Bercow ist Parlamentspräsident in London.
John Bercow ist Parlamentspräsident in London. © imago/ZUMA Press | Tom Nicholson

John Bercow Der Sprecher des Unterhauses hat es mit seinem „Order! Order!“-Gebrüll während der Brexit-Debatten zu einiger Bekanntheit auch außerhalb Großbritanniens gebracht. Der 56-Jährige verkörpert eindrucksvoll jene Besonderheiten des britischen Parlamentarismus, die Kontinentaleuropäer halb respektvoll, halb belustigt betrachten. Warum sich die Parlamentarier in London immer anbrüllen.

Doch dann hat es Bercow mit seiner Exzentrik übertrieben: Er lehnte eine weitere, dringend erwartete Abstimmung über den Brexit-Deal im Parlament ab. Mit aberwitziger Berufung auf eine Vorschrift aus dem 17. Jahrhundert, die seit 76 Jahren nicht mehr angewendet wurde. Bercow hat die Premierministerin vor aller Welt blamiert: Sie hatte die Kontrolle über den Brexit-Prozess sichtlich verloren, musste mit leeren Händen zum EU-Gipfel fahren und erreichte entsprechend wenig. So wurde Bercow zur Symbolfigur für den pflichtvergessenen Chaos-Kurs im Parlament.