Brüssel. Der Rückgang der Flüchtlingszahlen in der EU ist nicht so stabil wie vermutet. Flüchtlingsströme verändern sich, Behörden sind besorgt.

Sogar die Krise in Venezuela verstärkt jetzt den Flüchtlingszustrom nach Europa: Für die Zuflucht in der Europäischen Union brauchen Bürger aus dem lateinamerikanischen Staat zwar ein Flug- oder Schiffsticket – aber sie können anders als Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Nigeria ganz legal und ohne Visum in alle Länder der EU-Schengenzone einreisen.

Seit zwei Jahren steigt auf diese Weise die Zahl der Asylbewerber aus Venezuela, 2018 hat sie sich auf 22.200 verdoppelt. Der Zustrom markiert einen neuen Trend bei den Flüchtlingsbewegungen, der den EU-Behörden zunehmend Sorgen macht:

2018 reiste schon fast jeder fünfte Asylbewerber in der EU ganz regulär und visafrei ein, um hier einen Asylantrag zu stellen – etwa 115.000 Menschen insgesamt. Das geht aus einem neuen Bericht der EU-Asylagentur hervor, der unserer Redaktion vorliegt.

Schutzanträge haben sich innerhalb eines Jahres verdreifacht

Fast 20.000 dieser Antragsteller stammen aus Georgien, 10.200 aus Kolumbien und rund 21.900 Bürger aus Albanien – einem Land, mit dem die EU demnächst offizielle Beitrittsverhandlungen beginnt.

Die Zahl dieser Schutzanträge hat sich dem Bericht zufolge innerhalb eines Jahres um fast ein Drittel erhöht – und liegt nun über den Flüchtlingseinreisen aus Syrien und dem Irak zusammen. Die EU-Asylexperten mahnen, man müsse die Entwicklung sorgsam beobachten.

Während sich die EU-Kommission zusammen mit den Mitgliedstaaten bemüht, die gefährlichen, illegalen Fluchtrouten über das Mittelmeer in den Griff zu bekommen, tun sich längst neue Wege auf.

Innenminister Seehofer zieht positive Bilanz

Demonstranten in Venezuela.
Demonstranten in Venezuela. © REUTERS | EDGARD GARRIDO

Es ist nicht der einzige Trend, der Fachleute beunruhigt. Für die Kommission und die Mitgliedstaaten zeichnet die Asylagentur ein überraschend zwiespältiges Bild der Flüchtlingslage, das mit politischen Erfolgsmeldungen nur bedingt übereinstimmt. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) etwa zog vor kurzem eine überaus positive Bilanz:

Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland sei 2018 um 16 Prozent auf 185.000 gesunken, gab Seehofer zufrieden bekannt. Er sah das als Erfolg vieler Maßnahmen, etwa des EU-Türkei-Deals, der Schließung der Balkan-Route und gesetzlicher Änderungen.

Lage „scheint“ stabiler

Aber die Situation ist nicht so rosig, wie von Seehofer beschrieben. Deutschland bleibt von der Entwicklung in Europa abhängig. Der Bericht der Asylagentur zeigt ebenso wie andere Daten: Die Lage in der EU hat sich zwar entspannt, für eine Entwarnung ist es aber zu früh.

In der EU ging die Zahl der Asylbewerber deutlich langsamer zurück als in Deutschland: 634.700 Anträge bedeuten einen Rückgang um zehn Prozent. Obwohl das dem Stand von 2014 entspricht, erklärt die EU-Asylagentur nur sehr vorsichtig, die Lage „scheint“ sich stabilisiert zu haben.

Zugleich verweisen die Experten auf gegenläufige Entwicklungen. Vor allem: Die Jahresstatistik verdeckt, dass seit dem Sommer 2018 die Zahl der Asylbewerber in der EU wieder deutlich zugenommen hat, im Oktober sprunghaft um 20 Prozent. Ist der Rückgang des Flüchtlingszustroms nur von kurzer Dauer?

Rückgang der Zahlen von kurzer Dauer?

Auch aktuelle Zahlen scheinen darauf hinzudeuten: Die internationale Organisation für Migration berichtet, im Januar 2019 sei die Zahl der Mittelmeerflüchtlinge im Vergleich zum Vorjahresmonat wieder leicht auf 5600 gestiegen. So ist es Italien zwar gelungen, die zentrale Mittelmeerroute für Flüchtlinge weitgehend zu schließen.

Dafür hat sich die Zahl der Menschen, die weiter westlich vor allem über Marokko nach Spanien kommen, im Januar mehr als verdoppelt, verglichen mit dem Vorjahresmonat. Auf der östlichen Mittelmeerroute wird ein Anstieg von immerhin rund zehn Prozent registriert. Experten sind nicht überrascht.

Ein interner Bericht des EU-Rates hatte schon im Dezember gewarnt, „Wachsamkeit auf allen bestehenden und aufstrebenden Routen“ sei erforderlich. EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani argwöhnte, nach diesem Winter könne eine neue Krise bevorstehen.

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Asylbewerberzahl steigt vor allem in Spanien

Zu den Ländern, aus denen jetzt verstärkt Asylbewerber nach Europa einreisen, zählt neben Venezuela, Kolumbien und Georgien die Türkei: Von dort kamen voriges Jahr 24.500 Bürger, ein Anstieg um 50 Prozent. Dafür beantragen weniger Flüchtlinge aus Syrien Asyl.

Die Hinweise auf eine anhaltend unsichere Lage trifft die EU in einem ungünstigen Moment. Trotz aller Ankündigungen ist es den Mitgliedstaaten nicht gelungen, sich gemeinsam für wieder steigende Flüchtlingszahlen zu wappnen.

Der im Sommer verkündete schnelle Ausbau der Frontex-Grenzschutztruppe von 1.500 auf 10.000 Beamte wird frühestens 2025 erreicht. Die große Reform des Asylrechts, die auch die Flüchtlingsverteilung im Fall einer neuen Krisen regeln soll, ist ebenfalls blockiert, weil sich die Mitgliedstaaten nicht einigen können.

Flüchtlinge werden Wahlkampfthema in Spanien

Stattdessen versuchen EU-Staaten im Alleingang, auf ihre Weise die Flüchtlingsströme umzuverteilen. Eine Auswertung von Daten der europäischen Statistikbehörde Eurostat von Januar bis Oktober 2018 zeigt, dass Deutschland zwar weiter Hauptzielland von Asylbewerbern bleibt, aber mit sinkender Tendenz.

Starke Rückgänge registrieren Schweden, Österreich und Italien. Dafür steigt die Zahl der Asylbewerber etwa in Frankreich, Malta und Griechenland – und vor allem in Spanien, das von der Verlagerung der Flüchtlingsströme besonders betroffen ist. Ein großes Thema für die spanischen Parlamentswahlen im April steht damit schon fest.