Kiew. Selbst in Kriegszeiten ist die ukrainische Eisenbahn fast immer pünktlich. Ihr Chef erklärt, was die Deutsche Bahn von ihr lernen kann.

Oleksandr Kamyshin entschuldigt sich wortreich, er ist zu spät zum Interview im Bahnhof der ukrainischen Hauptstadt Kiew gekommen. Verspätungen kann der Chef von 230.000 ukrainischen Eisenbahnern nicht leiden. Trotz des Krieges fahren die Züge der Ukrasalisnyzja, der ukrainischen Eisenbahngesellschaft, in den allermeisten Fällen pünktlich.

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Das ist auch ein Verdienst des 38-jährigen Mannes, der mit seinem Kosakenzopf und den rasierten Schläfen mehr wie der Sänger einer Rockband als der Vorstandsvorsitzende eines Großunternehmens aussieht. In wenigen Wochen wird Kamyshin zum Bedauern vieler Eisenbahner sein Amt niederlegen und künftig als Berater des Präsidenten arbeiten. Im Interview blickt er auf die letzten Monate zurück.

Herr Kamyshin, haben Sie eine ungefähre Vorstellung, wie viele Kilometer Sie seit dem 24. Februar des vergangenen Jahres mit dem Zug unterwegs waren?

Oleksandr Kamyshin: Das kann ich wirklich nicht genau sagen. Aber seit dem Beginn des Krieges lebe ich auf den Gleisen. Ich wache in Zügen auf, ich schlafe in Zügen ein. Aber ich habe bestimmt ein halbes Jahr im Zug geschlafen.

Wie haben Sie den Tag der Invasion in Erinnerung?

Kamyshin: Ich bin damals früh morgens von einem unserer regionalen Manager angerufen worden. Er mir gesagt, dass sie bombardiert werden. Ich hörte die Explosionen in Kiew. Und dann habe ich immer mehr Anrufe aus den anderen Regionen reinbekommen. Alle sagte, sie würden bombardiert.

Was haben Sie getan?

Kamyshin: Mein erster Gedanke war: Wie kann es sein, dass wir im 21. Jahrhundert in der Mitte Europas plötzlich einen solchen Krieg haben, mit Luftangriffen und Raketen. Ich konnte es einfach nicht glauben. Aber dann habe ich meine beiden Jungs geküsst, und habe mich mit meinen Kollegen getroffen und wir haben begonnen zu kämpfen.

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Was waren die ersten Maßnahmen, die sie unternommen haben?

Kamyshin: Unser wichtigstes Ziel war es, das System am Laufen zu halten. Es war für uns klar, es ist keine Option, Züge stoppen. Sie mussten weiterlaufen. Das zweite Ziel war es, ein Evakuierungsprogramm zu starten. Wir hatten alle Bahnhöfe voller Flüchtlinge. Ich musste komplizierte Entscheidungen treffen. Die Leute mussten ohne Tickets fahren können, wir mussten Züge verlangsamen, wir mussten mehr Menschen in die Züge lassen, als es eigentlich erlaubt ist.

Wie viele Flüchtlinge haben Sie transportiert?

Kamyshin:Wir haben vier Millionen Menschen, darunter eine Million Kinder in Sicherheit bringen können, plus 120.000 Haustiere. Darunter war übrigens auch ein Krokodil. Wir waren eine Zeit lang sicherlich die haustierfreundlichste Eisenbahn der Welt. Nach dem Evakuierungsprogramm haben wir ein humanitäres Programm gestartet. Wir haben 400.000 Tonnen humanitäre Hilfe aus der ganzen Welt, inklusive Deutschland, an den Grenzen aufgeladen und im ganzen Land verteilt.

Olexander Kamyschin ist ukrainischer Eisenbahnchef.
Olexander Kamyschin ist ukrainischer Eisenbahnchef. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Sie haben es auch geschafft, dass die Züge in der Ukraine zu 90 Prozent pünktlich kommen.

Kamyshin: Ja, nicht nur das. Wir haben den Güterexport durch die Korridore an unseren westlichen Grenzen steigern müssen, um den Ausfall der Seehäfen zu kompensieren. Außerdem haben wir mehr als 300 offizielle Delegationen ins Land gebracht, inklusive dem deutschen Präsidenten, dem deutschen Kanzler und dem US-Präsidenten. Alle sind erfolgreich rein und rausgekommen.

Die russischen Streitkräfte zielen immer wieder auf die Eisenbahninfrastruktur. Wissen Sie, wie häufig sie getroffen haben?

Kamyshin: Sie treffen täglich. Jeder Tag beginnt für mich frühmorgens mit der Meldung über neue Schäden. Bisher gab es 12.500 Beschädigungen der Eisenbahninfrastruktur. Gleise, Bahnhöfe, Brücken, Züge, Kraftwerke. Ich berichte nicht jeden Tag darüber, weil ich nicht derjenige sein will, der ständig schlechte Nachrichten überbringt. Außerdem interessiert das die Menschen nicht. Sie wollen einfach, dass wir die Eisenbahn am Laufen halten. Und das schaffen wir.

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Wie sah ein typischer Tag für Sie in den vergangenen Monaten aus?

Kamyshin: Wir müssen unsere Arbeitsweisen jeden Tag anpassen. Wir sind in unserem mobilen Hauptquartier unterwegs. Wenn im Osten Strecken von Blindgängern oder Bomben geräumt werden müssen, sind wir da, wenn es irgendwo anders Handlungsbedarf gibt, reisen wir dorthin. Es kann im Krieg keine Routinen geben, weil der Krieg sich auch jeden Tag verändert. Wir müssen flexibel sein. Andernfalls war es das für uns. Das Wichtigste ist, den richtigen Modus Operandi zu finden.

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Wir haben in einem Depot eine alte Diesellok gesehen, die als Generator für den Fall eines Stromausfalls genutzt wird. Es sieht so aus, als müsste die ukrainische Eisenbahn derzeit viel improvisieren.

Kamyshin: Ja. Kreativ zu sein, ist der einzige Weg zu überleben. Sind wir es nicht mehr, sind wir raus. Das ist das, was sie von uns wollen. Aufzugeben und zu sterben. Wir wollen aber nicht sterben. Wir wollen leben.

Sie selbst sind zu einem wichtigen Ziel der Russen geworden. Waren Sie jemals selbst um Ihre Sicherheit besorgt?

Kamyshin: Die Russen sind gekommen, um alle Ukrainer zu töten. Sie töten Lehrer, Musiker, Ärzte, Soldaten, Eisenbahner. 764 Eisenbahner sind bisher getötet worden, mehr als 800 wurden verletzt. Sie sind gekommen, um uns alle zu töten. Ich verstehe die Frage deswegen nicht. Ich will mich nicht als spezielles Ziel verstehen.

Wie haben Sie Ihre Mitarbeiter motivieren können, trotz des Krieges weiterzuarbeiten?

Kamyshin: Das ist einfach. Wir schicken niemals Menschen irgendwo hin, wo wir nicht selbst hingehen würden. Mein Team und ich haben sehr viel Zeit im Süden und Osten unseres Landes verbracht. Ich war dreißigmal in Charkiw, fünfzehnmal in Kramatorsk und Slowjansk und fünfmal in Cherson, aber nur einmal in Uschhorod im Westen. Ich fühle mich besser, wenn ich mit meinen Leuten im Osten bin. Wenn du bei ihnen bist, fühlen sie sich sicherer. Sie wissen, wir sind ein Team und wir verfolgen das gleiche Ziel: Wir müssen standhaft bleiben. Und sie bleiben standhaft.

Sie sie stolz auf das, was Sie erreicht haben?

Kamyshin: Ich bin stolz darauf, was wir zusammen erreicht haben. Die ganze Ukraine, die ganze Welt weiß, dass die ukrainischen Eisenbahner wirklich eiserne Menschen sind.

Wenn Sie an die vergangenen Monate denken, gab es da einen Moment, der ein ganz besonderer für Sie war? Einen besonders positiven oder negativen Tag?

Kamyshin: Ich lebe immer noch am ersten Tag. Natürlich weiß ich, dass heute der 377. Tag des Krieges ist (zum Zeitpunkt des Gesprächs, Anm. d. Red.). Aber ich weiß nicht, welchen Wochentag oder welches Datum wir haben. Es ist für mich, als lebte ich in einem endlos langen Tag im Februar 2022.

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Waren Sie jemals müde oder so erschöpft, dass Sie alles hinwerfen wollten?

Kamyshin: Nein, das geht nicht. Es ist Krieg. Da kann man nicht sagen, ich bin müde. Ich habe meinen Leuten einmal im vergangenen Frühjahr einen halben Tag freigegeben. Dann bin ich allein durch den Park gelaufen, aber das Gefühl, dass die ganze Welt mich sehen kann, wie ich nichts tue und durch den Park laufe, war sehr seltsam für mich.

Wo würden Sie gerne in den Urlaub hinfahren, wenn dieser Krieg irgendwann vorbei sein sollte?

Kamyshin: Nach Deutschland. Ich liebe die Brücke in Köln, da fährt jede Minute ein Zug drüber. Das ist ein wirklich toller Ort. Die Züge in Deutschland sind klasse. Ich weiß, Ihr mögt die Pünktlichkeitswerte nicht, aber generell ist die Bahn sehr gut. Ich liebe den ICE.

Ich finde ja den Nachtzug in der Ukraine mit seinen Schlafabteilungen komfortabler als einen ICE.

Kamyshin: Züge mit Schlafwagen sind leider in Europa aus der Mode gekommen. Aber sie werden wieder kommen. Es ist so viel effizienter, mit einem Nachtzug zu fahren. Man steigt in Berlin ein und wacht in Brüssel auf. Man verschwendet keine Zeit wie im Flugzeug, Sie wissen schon, das Einchecken und Auschecken, und die Sicherheitskontrollen. Ich traue Flugzeugen sowieso nicht. Ich traue nichts, das nicht auf Gleisen fährt.