Berlin. Marode Kasernen, fehlende Ausrüstung, zu wenig Personal: Die Bundeswehr verwaltet auch ein Jahr nach der „Zeitenwende“ den Mangel.

Mit Russlands Angriff auf die Ukraine hat sich auch für die Bundeswehr schlagartig vieles geändert. Die Landes- und Bündnisverteidigung steht wieder im Zentrum. Doch ist die Truppe nach Jahren des Sparens dafür vorbereitet? Gut zwölf Monate, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner historischen „Zeitenwende“-Rede die Modernisierung der Bundeswehr angekündigt hat, zieht die Wehrbeauftragte Eva Högl Bilanz – und die fällt nicht gut aus: Im Nato-Bündnis sei die Bundeswehr zwar verteidigungsfähig, „aber sie ist nicht voll einsatzbereit“.

Wehrbericht: So war der Zustand der Bundeswehr bei Kriegsbeginn

In ihrem Jahresbericht für 2022 erinnert die SPD-Politikerin daran, dass der Heeresinspekteur Alfons Mais die Bundeswehr am Morgen des Kriegsbeginns in der Ukraine als „mehr oder weniger blank“ bezeichnete. Diese und andere Warnungen, etwa zur Munitionsknappheit, hätten damals die Dringlichkeit unterstrichen, „den schon seit Jahren bekannten Mangel in vielen Bereichen der Bundeswehr schleunigst zu beseitigen“, schreibt Högl in ihrem Bericht.

So steht die Bundeswehr laut Wehrbericht jetzt da

Ob Beschaffung, Ausrüstung oder Personal: In allen Punkten sieht die Wehrbeauftragte weiterhin gefährliche Defizite. Durch den Ukraine-Krieg hat sich nicht nur die Bedrohungslage verändert – was eine einsatzbereite Bundeswehr umso wichtiger macht. Die Mängel bei der Ausrüstung haben sich dadurch auch verschärft: „Die sinnvolle und richtige Abgabe militärischen Geräts und Materials an die Ukraine hat die Situation weiter zugespitzt, denn entsprechender Ersatz ist nicht sofort verfügbar“, warnt Högl. „Das abgegebene Material und Gerät muss zügig ersetzt werden, um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nicht dauerhaft zu beschädigen.“

Die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) warnt, die Abgabe militärischen Geräts und Materials an die Ukraine habe die Situation der Bundeswehr „weiter zugespitzt“.
Die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) warnt, die Abgabe militärischen Geräts und Materials an die Ukraine habe die Situation der Bundeswehr „weiter zugespitzt“. © dpa | Michael Kappeler

Wehrbericht über Situation bei der Bundeswehr: Was fehlt? Alles

„Die Bundeswehr hat von allem zu wenig“, sagt Högl. Das betreffe Ausbildung, Übung und den Einsatz. Es fehlen persönliche Ausrüstung kleineres Gerät wie Nachtsichtgeräte und Funkgeräte, aber auch das große Gerät wie Panzer, Flugzeuge und Schiffe. Allein einen zweistelligen Milliardenbetrag hält die SPD-Politikerin für erforderlich, um Munitionsbestände aufzufüllen und Munitionslager zu bauen.

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Dies sei „umso alarmierender“, da mit dem Fokus auf die Landes- und Bündnisverteidigung der Grundsatz „train as you fight“ – also der Ausbildung unter Einsatzbedingungen – noch wichtiger geworden sei. „Die Kampfbereitschaft einer Armee hängt entscheidend vom geübten Umgang mit Waffen und Munition ab.“ Als positiv hebt Högl hervor, dass entschieden wurde, den F-35-Kampfjet, einen neuen schweren Transporthubschrauber, bewaffnete Drohnen, ein neues Sturmgewehr und digitale Funkgeräte anzuschaffen.

Bundeswehr: Das Sondervermögen und die Finanzen

Für Högl reicht es nicht, mit den 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen zusätzlich zum regulären Wehretat die Bundeswehr neu auszurüsten: Sie beruft sich auf Experten, die Ausgaben von 300 Milliarden Euro für erforderlich halten. Zudem müsse der Verteidigungshaushalt in „deutlichen Schritten“ angehoben werden, um die in der Nato vereinbarten Rüstungsausgaben in Höhe von zwei Prozent der nationalen Wirtschaftskraft zu erreichen.

Allerdings: Die Ampel-Koalition streitet derzeit heftig um Geld. Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat deswegen gerade erst die Vorstellung der Eckwerte des nächsten Bundesetats verschoben.

Mit 100 Milliarden Euro aus einem Sondervermögen soll die Bundeswehr modernisiert werden - doch bisher ist von dem Geld noch nichts bei der Truppe angekommen.
Mit 100 Milliarden Euro aus einem Sondervermögen soll die Bundeswehr modernisiert werden - doch bisher ist von dem Geld noch nichts bei der Truppe angekommen. © dpa | Moritz Frankenberg

Das ewige Problem der Beschaffung schwächt die Bundeswehr

Das Geld ist allerdings nicht das einzige Problem. „Ausgaben aus dem Sondervermögen hat es bis Ende des Berichtsjahrs nicht gegeben“, stellt Högl fest und beklagt, dass alles viel zu lange daure. Bei dem Besuch eines Hubschraubergeschwaders erfuhr Högl etwa, dass die Piloten dort seit zehn Jahren auf einen am Markt verfügbaren Fliegerhelm warten.

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Die Wehrbeauftragte fordert, endlich das seit Jahren kritisierte Beschaffungswesen umzukrempeln: weniger Bürokratie, leichtere Auftragsvergabe, Aussetzung von Regeln für den Einkauf, an die Sicherheitslage angepasste Gesetze, mehr auf dem Markt verfügbare Produkte anstatt komplizierter Sonderwünsche. „Den Krieg in der Ukraine vor den Augen müssen die Soldatinnen und Soldaten sofort spüren, dass der Dienstherr sie ihrem veränderten Auftrag entsprechend ausrüstet und ausstattet.“

Der Wehrbericht zeigt eine Truppe unter Stress

Durch die neue Bedrohungslage an der Ostflanke der Nato ist die Bundeswehr auch personell massiv gefordert. Seien für einen Einsatz wie in Afghanistan zwei Verbände in Bataillonsstärke mit jeweils 300 bis 1000 Soldaten bereitzuhalten und auszurüsten gewesen, gehe es nun um Großverbände, schreibt Högl. Der Nato seien drei Divisionen mit acht Brigaden und rund 50.000 Soldaten zugesagt. Mit einer angespannten Lage sei auch in den kommenden Jahren zu rechnen. Die Wehrbeauftragte sieht die Soldatinnen und Soldaten aber bereits jetzt an der Grenze der Belastbarkeit.

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„Nicht selten folgt über Jahre hinweg eine Entsendung auf die nächste. Der verstärkte Auftrag an der Nato-Ostflanke verschärft die Situation“, schreibt Högl. Sie schildert den Fall eines Marinesoldaten, der unmittelbar nach Rückkehr von einer mehrmonatigen Mission mit nur zwölf Tagen Vorlaufzeit davon erfuhr, dass er direkt wieder für zweieinhalb Monate für einen Nato-Einsatzverband verplant war – obwohl eigentlich eine 1:5-Regel gelte: War ein Soldat beispielsweise vier Monate im Einsatz, soll er für die nächsten 20 Monate nicht erneut entsendet werden. Högl warnt vor Überlastung, psychischer Belastung und Problemen in den Familien durch zu kurze Erholungszeiten.

Bundeswehrsoldaten im Einsatz an der Nato-Ostflanke in Litauen.
Bundeswehrsoldaten im Einsatz an der Nato-Ostflanke in Litauen. © AFP | Tobias Schwarz

Der Bundeswehr fehlen die Soldaten

Grund für die „extreme Belastung“ sei die seit Jahren bestehende hohe Zahl unbesetzter Dienstposten, schreibt Högl und rechnet vor, dass fast 19.000 militärische Dienstposten unbesetzt sind – das entspricht knapp 16 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahr schrumpfte die Zahl der Soldatinnen und Soldaten sogar leicht auf gut 183.000. Von dem Ziel des Verteidigungsministeriums, die Stärke der Truppe bis 2031 auf 203.000 Soldaten zu erhöhen, sieht Högl die Bundeswehr weit entfernt – zumal die Bewerbungen bei der Truppe 2022 um elf Prozent einbrachen. Es gebe „dringenden Handlungsbedarf“ beim Thema Personal.

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Wehrbericht: Schimmelnde Kasernen und fehlende Infrastruktur

Für eine Bundeswehr mit „Kaltstartfähigkeit“ gehört für Högl auch eine intakte Infrastruktur. Viele Kasernen seien aber in einem „erbärmlichen Zustand“. Eine Artilleriekaserne in Idar-Oberstein führt Högl als „trauriges Paradebeispiel“ an: 85 Prozent der Bausubstanz seien dort sanierungsbedürftig oder gänzlich abgängig. Die Wehrbeauftragte sah undichte Fenster, Wasserschäden infolge von Rohrbrüchen oder Dachschäden, nicht nutzbare Sanitäranlagen und Unterkünfte in „inakzeptablem“ Zustand.

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In Angriff genommene Reparaturen dauern oft ewig: Die Schwimmhalle der Kampfschwimmer in Eckernförde wird seit mehr als zwölf Jahren saniert. Högl sieht einen „immensen“ Nachholbedarf bei der Instandsetzung. Aber: „Wenn es bei dem augenblicklichen Tempo und den bestehenden Rahmenbedingungen bliebe, würde es ein halbes Jahrhundert dauern, bis allein nur die jetzige Infrastruktur der Bundeswehr komplett modernisiert wäre.“ Fazit: Zeitlupe statt Zeitenwende.

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